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Aaron Altaras aus “Die Zweiflers” im Interview: “Ich hatte Angst vor jüdischen Klischees”

Die ARD-Serie “Die Zweiflers” sorgte in Cannes für viel Aufsehen. Aaron Altaras spricht im GQ Interview über seine Hauptrolle und seine jüdische Identität.
Aaron Altaras für GQ Hype
Miriam Marlene

Aaron Altaras spielt die Hauptrolle in der wahnsinnig guten Serie “Die Zweiflers” und erzählt hier, wie er seine jüdische Identität lebt.

Beim Festival “Canneseries” wurde die Serie “Die Zweiflers” über eine jüdische Familie in Frankfurt Anfang April mit dem Hauptpreis ausgezeichnet – ein sensationeller Start für ein außergewöhnliches TV-Projekt. Altaras wurde vor einigen Jahren mit der Serie “Unorthodox” bekannt, spielte zuletzt in “Deutsches Haus” mit. Wie es Menschen jüdischen Glaubens in Deutschland geht und wie der 28-jährige Schauspieler auf die eigene Familiengeschichte zurückblickt, lesen Sie hier im großen GQ Hype Interview mit Aaron Altaras.

GQ: Herr Altaras, was ist das für eine Kette, die Sie um den Hals tragen?

Aaron Altaras: Die ist von Tiffany, eigentlich so eine Teenager-Mädchen-Kette, aber meine Freundin hat die weiter machen lassen, damit ich sie um den Hals tragen kann.

Die ist auch mit in „Die Zweiflers“, oder?

Ja. Das T-Shirt, das ich in den ersten 20 Minuten der Serie trage, ist auch mein privates Lieblingsshirt. Das hab’ ich hier mal um die Ecke gekauft.

Man hat den Eindruck, dass die Figur in der Serie sehr viel Ähnlichkeit mit Ihnen hat, dem Menschen Aaron Altaras.

Ja, wir haben meinen Ohrring dringelassen, meine Tattoos auch. Das wollte David Hadda, der Showrunner und Creator der Serie, so. Wir haben uns dafür entschieden, weil wir einen echten Menschen wollten. Der ist zwar anders als ich und hat andere Probleme als ich, aber wenn ich schon ein paar Tattoos und eine Frisur mitbringe, die vielleicht nicht jeder hat, wollten wir das auch für die Rolle nutzen.

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Miriam Marlene

Aaron Altaras über jüdische Klischees

In der Serie hört man eine Sprache, die zu Beginn des letzten Jahrhunderts weltweit von rund elf Millionen Menschen gesprochen wurde. Heute sprechen nur noch eine Million Menschen Jiddisch.

Ja, in New York zum Beispiel.

Und in Frankfurt, wie wir in „Die Zweiflers“ lernen. Allein diese Sprache zu hören, erwischt einen ziemlich krass. Man setzt sich sofort damit auseinander, dass man Jiddisch so selten hört, weil die Sprecherinnen und Sprecher des Jiddischen im Holocaust vernichtet wurden. Wahrscheinlich jede jüdische Familie trägt dieses Trauma auf die ein oder andere Art in sich. In der Familie Zweifler ist es Auschwitz. Wie war es für Sie als Jude, als Sie das erste Mal die Drehbücher gelesen haben?

Als ich die Drehbücher das erste Mal gelesen habe, habe ich abgesagt.

Oh!

Eher aus persönlichen Gründen. Die Drehbücher waren sehr gut, aber ich hatte Befürchtungen. Ich wollte nicht unbedingt jüdische Themen bespielen, weil es mir oft auf die Nerven geht, wie das in Deutschland dargestellt wird. Nach „Deutsches Haus“ wollte ich einfach etwas ganz anderes machen. Ich hatte Angst vor jüdischen Klischees, Judentum in Deutschland, Schtetl, Klezmer, Auschwitz. David hat mir die Angst genommen. Gott sei Dank, haben sie mich überredet. Die Geschichte ist eine mega Chance, zu zeigen, was Judentum in Deutschland wirklich ist, die ganze Palette und in allen Formen, mit Krisen, die andere Menschen auch haben.

„Die Zweiflers“ haben tatsächlich etwas sehr Echtes an sich.

Es ist ganz wichtig, das zu zeigen. Menschen, die Beziehungsprobleme haben. Menschen, die in einen Club gehen, um zu tanzen.

In einer Szene ganz am Anfang lernt der von Ihnen gespielte Samuel die Frau kennen, in die er sich verliebt. Sie haben Lust auf sie, es kommt aber sofort zu einem Battle zwischen Ihnen beiden. Es geht um Identität. Sie denkt, Sie hätten einen rassistischen Spruch über ihre schwarze Hautfarbe gemacht.

Genau, sie lässt mich ziemlich auflaufen. Das zeigt Samuel in seiner Großspurigkeit und Nervosität. Es geht in der Szene darum, Fehler zu machen, die jedem Menschen geläufig sind. Da sieht man auch, was für eine mega gute Schauspielerin Saffron Coomber ist. Wir sind nach London gefahren und haben viele Schauspielerinnen gecastet. Davor wurde auch lange in Deutschland gecastet, aber David wollte, dass es eine Sprachbarriere gibt, was die Essenz dieser Beziehung ist. Sie ist in dem Frankfurter Familienkonstrukt die Außenseiterin. Sie kann da nicht durchdringen und das ist sein Konflikt. Da navigieren zu müssen zwischen seiner Familie und seiner Liebe. Mit Saffron habe ich mich sofort so gut verstanden, mega Humor. Man glaubt uns, dass wir ein Paar sind, das sich liebt, aber große Schwierigkeiten miteinander hat.

Der größte Konflikt in der Beziehung ist ein Identitätskonflikt und eigentlich geht es in der Serie immer um Identität. Inwieweit hat das in Ihnen eine Auseinandersetzung mit Ihrer jüdischen Identität oder Ihrer Familiengeschichte in Gang gesetzt?

Ich glaube, der Trugschluss, der meiner Figur Samuel unterliegt, ist, dass man denkt, er müsse den Identitätskonflikt mit seiner Partnerin klären, aber im Endeffekt ist Identität etwas, was man erstmal mit sich selbst klären muss. Das hört auch nicht auf. Identität ist ein vorangehender Prozess. Man muss sich immer wieder fragen, wo man steht, und dazu gehören gewisse Dinge, die man sich nicht aussuchen kann. Das fällt Samuel Zweifler wahnsinnig schwer, bis hin zu einer depressiven Lähmung. Weil er sich nicht entscheiden kann, wer er ist.

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Miriam Marlene

Aaron Altaras über seine Familiengeschichte

Er bekommt aber ja auch ungeheuren Druck aus der Familie.

Ja, er frisst das in sich rein und wird ganz klein und traurig, lahm und wütend, anstatt den Mut zu haben, sich hinzustellen und zu sagen, wofür er stehen will.

Und Sie?

Ich komme ja aus einer, sagen wir mal, sehr viel säkulareren Welt als er, wo das Familienbild nicht so eng ist. Mein Vater ist auch nicht jüdisch. Ich war auf einer jüdischen Schule und kenne die jüdische Welt, die Zusammenhänge. In der Serie ist die Kontrolle, die Samuel spürt, etwas Brutales. Er spürt, dass er nicht ausbrechen kann. Das gibt es in vielen Communities, aber in dieser Frankfurter Community ganz besonders. Man bleibt unter sich. Viele Familien funktionieren so, dieses „Wer mit wem?“ fühlt sich sehr schnell so an, als gebe es keine Möglichkeiten, da rauszukommen oder eigene Entscheidungen zu treffen. Für mich war das mega interessant, weil der Mann ungefähr so alt ist wie ich. Er zeigt mir ein Leben, das ich hätte leben können. Er bekommt ein Kind. Ich bin auch in dem Alter, in dem das Themen sind. Viele Entscheidungen, die er treffen muss, habe ich auch und das kann erschlagend sein.

Ihr Bruder Leo spielt auch in der Serie mit und spielt dort auch Ihren Bruder. Er ist ein junger Künstler und zeigt bei einer Ausstellung ein gigantisches Familienporträt, eine Art Generationenbruch, womit er Ihre Eltern und Großeltern sehr gegen sich aufbringt. Später wird das Kunstwerk von Fremden mit einer antisemitischen Parole verschandelt. Das ist eine sehr beklemmende Szene, weil jede Richtung, in die Sie sich bewegen, irgendwie zur Sackgasse wird. Mal ist es die eigenen Familie, die Grenzen setzt, dann ist es eine judenfeindliche Gesellschaft. Wie kann man als Kind einer jüdischen Familie, die Zusammenhalt verlangt, überhaupt rebellieren?

Es geht ja in jüdischen Communities, eigentlich in allen religiösen oder kulturellen Communities, ganz viel um Stolz und Stolz ist per se nichts Schlechtes. Da geht es auch um Würde und um die Frage, wie man sich definiert und mit seinen Mitmenschen zusammenlebt. Das ist ein schmaler Grat. Würdevoll und aufrecht durchs Leben zu gehen. Es gibt in jeder Generation unterschiedliche Definitionen darüber, was einen zu dem macht, wer man ist. Ist es der Geburtsort oder die Religion? Ist es die Familie? Ist es Auschwitz? Sind es die Deutschen, die einen nichts anderes als Ausländer sein lassen? Man wird ja auch zu jemandem gemacht. Othering. Das passiert ganz vielen Moslems in Deutschland. Das passiert Leuten mit Migrationshintergrund. Und das passiert Juden. Die Deutschen haben eine unglaublich schwierige Beziehung zu diesem Völkchen. Hat Adorno nicht gesagt, „They blamed the Jews for Auschwitz.“? Darum geht es heute auch. Jetzt gibt man den Juden die Schuld an Israel. Beides ist falsch. Ich hab’ sehr wenig Kontrolle und Verantwortung für das, was in Israel passiert. Es tut mir alles leid. Ich möchte nicht, dass Palästinensern und Isrealis so viel Leid zufährt. Die Situation ist überhaupt nicht in Ordnung. Ich kann trotzdem nicht sehr viel dafür und ich möchte mich auch nicht damit identifizieren müssen. Das ist ein schwieriger Konflikt für die Deutschen und auch viele Juden tun sich damit schwer. Es geht um Identität. Darum geht es auch viel in der Serie. Ist man nur, wer man ist, weil die anderen das sagen? Die anderen sind die Eltern oder die Frau oder die Freundin oder the Germans oder die Stadt oder man selber? Es braucht viel Introspektive und Mut, um das herauszufinden.

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Aaron Altaras über den Brauch der Beschneidung

Ein jüdischer Brauch, der viel mit Identität zu tun hat, ist die Bris, die Beschneidung des männlichen Gliedes kurz nach der Geburt. In der Serie steht die werdende Mutter als nichtjüdische Schwarze Frau vor der Herausforderung, sich der Tradition zu unterwerfen, ohne dass es eine Bedeutung für sie hätte. Können Sie ihr Hadern verstehen?

Es ist der ultra Konflikt, den fast alle jüdischen Väter und Mütter führen. Es ist eine sehr schwere Entscheidung zwischen Brauch, Kultur und Identität und, sagen wir mal, dem Fortgang der modernen Zeit. Ich bin mir sicher, dass sehr viele Eltern sich damit sehr schwer tun. Ich weiß es von meinen Eltern.

Wie war es bei Ihnen in der Familie?

Meine Mutter hat es irgendwann entschieden, aber die ganze Zeit geweint. Ich hab’ mit David Hadda mal darüber gesprochen, weil die vor zwei Jahren Eltern geworden sind, und er sagte, er sei einfach sehr glücklich, eine Tochter bekommen zu haben. Da mussten wir die Entscheidung nicht fällen. Es ist vor allem dann schwer, wenn die Eltern aus zwei Kulturen kommen, oder? Nein. Es ist auch dann schwer, wenn beide Eltern aus derselben Kultur kommen. Ich weiß nicht, was ich tun würde.

Die Beschneidung wird im Säuglingsalter vorgenommen.

Ja, acht Tage nach der Geburt. Sagen wir mal so, du musst sehr früh eine elementare Entscheidung über dein Kind fällen.

Haben Sie mit Ihrem Vater darüber gesprochen, wie es für ihn war, dass Ihre Mutter die Entscheidung getroffen hat?

Mein Vater ist ehrlich gesagt auch beschnitten. Das ist ja durchaus gang und gäbe aus vielerlei Gründen. In Deutschland ist das ein sehr großes Politikum geworden. Ich glaube nicht, dass das sein muss. Wenn der Staat sich in die kulturellen oder religiösen Konflikte innerhalb von Familien einmischt, gibt es immer Tränen.

Auch innerhalb des Judentums fällt manchen die Umsetzung dieses Brauches schwer. Wie würden Sie entscheiden, wenn Sie einen Sohn bekämen?

Ich weiß es nicht. Ich finde, es sieht besser aus. Zumindest hat meine Mutter es so entschieden. Sie hat das mit ihren schwulen Musical-Kollegen diskutiert und die meinten, es sieht besser aus.

Musical-Darsteller haben über Ihre Beschneidung entschieden?

So ungefähr. Aber ehrlich gesagt, wahrscheinlich würde ich es nicht machen. Ach, ich weiß nicht. Sehr kompliziert. Mir ist die Religion nicht sehr wichtig, die Kultur schon. Aber ich kann mir vorstellen, dass ich meine Kultur in meiner eigenen Familie auch weitergeben kann, ohne eine Beschneidung machen zu lassen. Aber manche würden argumentieren: „There is no cherrypicking!“

Wer argumentiert so?

Zum Beispiel die Familie von Samuel Zweifler. Und das verstehe ich auch. Wenn ein Volk so vom Aussterben bedroht ist, werden Zeichen der Identität elementar. Um zu zeigen, wo man hingehört. Dass man nicht ausgelöscht werden kann. Wenn die Bräuche nicht ausgelöscht werden können, kann man auch nicht ausgelöscht werden. Es gibt ein Gespräch in der Serie zwischen Samuel und seinem Großvater, in dem der ihm sagt: „Du kannst es dir nicht aussuchen. Du wirst es immer sein. Dann musst du auch die Verantwortung dafür übernehmen, dass dein jüdisches-mixed Kind in Würde aufwachen kann.“ Das macht für Samuel sehr viel Sinn und für mich als Aaron macht es das auch.

Heißt das, dass auch in Ihrem Leben niemand Sie unter Druck setzt, eine jüdische Freundin zu haben?

Nein, gar nicht. Wir haben Feiertage gefeiert und ich war auf einer jüdischen Schule, aber ich komme aus einem sehr säkularen, eher künstlerischen Elternhaus. Mein Vater ist mit 16 oder 18 aus der katholischen Kirche ausgetreten, wie fast jeder in der Generation. Der war früher Messdiener, das ganze Programm. Und meine Mutter hat zwei kommunistische Eltern gehabt, der eine war Partisane, die andere im KZ. Die haben sich aber nie über Judentum identifiziert, sondern über Jugoslawien, über Kommunismus, über Italien und über die Wissenschaft, ein Arzt und eine Architektin. Die kannst du mit Religion jagen.

Ihre Mutter Adriana hat mehrere Bücher über Ihre Familiengeschichte geschrieben. In einem der Bücher ist ein Kapitel auf Jiddisch verfasst. Hat die Sprache in Ihrer Kindheit eine Rolle gespielt?

Nein, meine Mutter kann gar kein Jiddisch. Ich auch nicht. Meine Mutter hat mit uns Italienisch gesprochen. Aber Jiddisch hat so einen mystischen, sehr dramatischen Effekt, weil jedem klar ist, dass es eine Sprache ist, die früher oder später ausstirbt.

Weil sie vor allem von osteuropäischen Juden gesprochen wurde, die vernichtet wurden.

Genau, jetzt wird die Sprache am meisten von Orthodoxen gesprochen.

In der Serie „Unorthodox“, in der Sie auch mitgespielt haben, hat man Jiddisch gehört, zuletzt auch in der Serie „Kafka“.

Ja, es ist eine sehr schöne Sprache.

Am Verschwinden dieser Sprache bildet sich auch der Assimilationsdruck ab. Egal, wohin die Menschen ausgewandert sind, ob Argentinien, New York oder Singapur, konnte das Jiddische den neuen Lebensräumen schwer standhalten.

Ja, Jiddisch wurde oft als provinziell angesehen. Man wollte Teil der Gesellschaft sein und nicht nur als Juden angesehen werden. Diesen Anspruch haben viele Minderheiten. Das ist ein klassisches migrantisches Problem. Die alte Welt hinter sich lassen zu müssen.

Ihre Mutter wurde als Vierjährige aus Jugoslawien geschmuggelt, nach Italien in die Stadt Mantua. Später ist sie nach Italien gezogen, aber das Italienische liegt Ihnen bis heute in der Familie, oder?

Ja, meine Mutter ist bei ihrer Tante aufgewachsen, die für uns wie eine Oma war. Sie ist einem der KZs entkommen, die als erste befreit wurden, als die Italiener sich gedreht haben. Sie ist mit einem Offizier nach Italien geflohen. Da ist meine Mutter aufgewachsen. Ihre Mutter auch. Mein Opa war Partisane, aber verließ dann auch Jugoslawien. Er war schon praktizierender Arzt, aber musste nachdem er floh noch mal Medizin studieren, von vorne, in der Schweiz, als Familienvater, während die Familie in Italien war. So geht es vielen, die nach Deutschland kommen. Er ging dann nach Deutschland, wo auch meine Mutter irgendwann landete. Das sind alles Zufälle, ohne die es mich gar nicht geben würde.

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Miriam Marlene

Aaron Altaras über das Trauma des Holocaust

Das sind so typische europäische Biografien, die von Kriegen und politischen Umbrüchen gezeichnet sind, voller Zufälle, wie Sie sagen …

… wie die meisten Leute in Europa.

Wann haben Sie verstanden, dass Sie mit einem Rucksack voller schwerer Historie durchs Leben gehen?

Ich find’ das mega geil. Ich finde das wirklich toll. Das gilt nicht für mich, sondern für die meisten Europäer. Es ist ein absoluter Zufall, dass wir am Leben sind. Das ist überall in der Welt so, aber in Europa ist so viel Mord und Tod geschehen. Es ist der Wahnsinn. Egal, ob du Pole, Deutscher, Italiener oder Jude bist, egal. Es ist eine Verkettung von sehr vielen Zufällen, dass wir geboren wurden. Ich hab’ das nie als schwer empfunden. Für mich ist der Holocaust kein emotionales Baggage. Für meine Mutter schon, weil ihre Eltern es erlebt haben und das Trauma an sie weitergegeben haben. Aber dieses Trauma ist nicht an mich weitergegeben worden.

Wie haben Sie das geschafft? Oder wie hat Ihre Mutter das geschafft?

Sie gibt es schon weiter, aber das ist für mich einfach sehr, sehr lange her. Für mich ist es unglaublich schwer, das überhaupt zu verstehen. Ich habe ein großes Gefühl von ungeheurer Ungerechtigkeit, dass meinen Leuten sowas angetan wurde. Das legt sich auch nie. Jeder Mensch mit einem gesunden Verstand hat eine Wut und Trauer, dass anderen Menschen sowas angetan wurde. Das wird sich nie lösen. Das ist der Wahnsinn … [seine Augen füllen sich mit Tränen] Aber darüber definiere ich mich nicht. Bin in Berlin geboren, [zögert] Fußball spielen.

Es bleibt das Unfassbare.

Was aber interessant ist, und das ist die aktuelle Situation, ich fühle mich gar nicht jeden Tag als Jude. Ich bin primär Berliner. Ich bin Deutscher. Meine Mutter kommt aus Italien. Ich bin Herthaner. Ich bin ein Mann. Ich bin viele Sachen, die ich ehrlich gesagt in der Rangliste von Identität vielleicht vorher sehe, als Jude zu sein. Nur dadurch, dass wir diesen Konflikt haben, diesen grausamen Krieg in Israel, werde ich von der Gesellschaft überhaupt wieder zum Juden gemacht.

Als am 7. Oktober des letzten Jahres die islamistische Terrororganisation Hamas Israel überfiel, über tausend Menschen ermordete, Geiseln nahm und Raketen abfeuerte, waren Sie noch in den Dreharbeiten einer Serie über jüdische Identität.

Und da habe ich gesagt, es wird alles noch viel schlimmer. Die Schere, die das auch hier in die Gesellschaft gebracht hat, macht mir sehr große Sorgen. Es ist viel kaputtgegangen. Zwischen Deutschen und Juden, zwischen Moslems und Juden, zwischen Moslems und Deutschen. Das ist fast nicht mehr reparabel. In den USA auch, überall. Wir sind alle sehr viel anfälliger, als wir dachten. Wir sind in eine Situation geraten, in der wir voreinander kapitulieren. Wie der Ton voreinander wird. Das hätte ich nicht gedacht.

Sie sind Teil eines Kultur- und Medienbetriebs, in dem Bekenntnisse eingefordert werden. Wie gehen Sie damit um?

In sozialen Medien hab’ ich mich aus vielem rausgehalten, aber ich habe mich zum 7. Oktober geäußert und ich habe mich zur Besatzung geäußert. Ich habe auch ein Ceasefire gefordert. Wenn wir uns nicht darauf einigen können, dass keine unschuldigen Menschen sterben, kommen wir gar nicht mehr zusammen. Ich glaube nicht, dass die Deutschen im Kulturbetrieb richtig mit der Situation umgehen. Die Dogmatik und die One-Size-Fits-All-Haltung hilft den Juden nicht. Der Holocaust ist eine Sache, Antisemitismus ist eine Sache, aber dass Israel Gaza besetzt, ist eine andere Sache. Das sind sehr unterschiedliche Dinge. Natürlich ist es richtig, dass Deutsche versuchen zu zeigen, dass der Ton auf vielen Demos mit der deutschen Verfassung nicht zu vereinen ist. Aber wie der deutsche Staat und auch viele Kulturinstitutionen damit umgehen, ist mega kontraproduktiv. Für Palästinenser, für Deutschland und auch für Juden. Weil genau das echten Antisemitismus kreiert. Man hat das Gefühl, der deutsche Staat hält an Auffassungen fest, anstatt Kritik zuzulassen. Es ist völlig legitim, Israel zu kritisieren. Es ist nicht legitim, Juden dafür zu kritisieren. Das ist relativ simpel.

„Die Zweiflers“ fallen genau in eine Zeit, in der viele versuchen, jüdische Identität zu verstehen, auch innerjüdische Konflikte. Wie seid ihr bei den Dreharbeiten damit umgegangen, dass gerade alles aus den Fugen gerät?

Es gab so Sicherheitsbedenken. Es ist schon scary, wenn man in Frankfurt an einer Synagoge dreht und da sind plötzlich Hakenkreuze. Da war auch ein Fadenkreuz.

An die Synagoge gemalt?

Ja, das Fadenkreuz fand ich noch perfider als das Hakenkreuz. Wahnsinn. Was ist denn hier los? Natürlich sind das Einzelfälle, aber in welcher Welt ist es vorstellbar, dass man irgendeinem Menschen ein Fadenkreuz auf den Rücken malt? Wirklich. Das ist der Wahnsinn. Gleichzeitig sind „Die Zweiflers“ eine Geschichte, die außerhalb dieser Welt erzählt wird. Israel ist da kein großes Thema. Für viele Juden ist Israel kein Thema. Natürlich habe ich irgendeine Verbindung zu Israel. Ich hab’ aber auch eine große Verbindung zu Italien.

Ok, etwas Leichtes. Italien. Was haben Sie heute mit Italien zu tun?

Es ist lustig, dass unsere Eltern gar nicht daher kommen, aber irgendwie dort aufgewachsen sind und das an uns weitergegeben haben. Unsere Freunde haben früher immer zu uns gesagt, dass wir Kroaten sind, die sich als Italiener verkleiden. Wir sind mit der italienischen Sprache aufgewachsen und haben viel Zeit dort verbracht. Die Italiener sind unglaublich entspannt.

Was ist Ihr Italien?

Neapel. Ich versuche, mindestens einmal im Jahr dort zu sein. Die haben einfach verstanden, wie es läuft. Ich hab’ da viele Gleichgesinnte getroffen [lacht]. Ich liebe die Stadt. Essen ist geil. Die Leute haben ein interessantes Weltbild. Ist für mich das Paradies auf Erden. Ich war auch da, als die die Liga geholt haben. Ich hab’ ein Maradonna-Tattoo auf dem Knie. Werde da immer sehr glücklich.

Dass Sie schon als Kind mit dem Schauspielen angefangen haben, hat nichts mit den guten Beziehungen Ihrer Mutter zu tun. Sie wurden tatsächlich selbst entdeckt.

Ja, der Sohn von Simone Bär war in meiner Klasse, die große Casterin, die letztes Jahr verstorben ist. Die haben damals einen Jungen für einen ZDF-Film mit Erol Sander gesucht. Und danach hab ich den Michael-Degen-Film gemacht, der ziemlich gut ist. Da hat damals Deutschlands halbe Schauspielelite mitgespielt, Hannelore Elsner, Maria Simon, Merab Ninidze. Das hab’ ich natürlich alles erst sehr viel später verstanden.

Inzwischen spielen Sie selbst die großen Hauptrollen. Wie rekapitulieren Sie die letzten drei Jahre?

„Unorthodox“ hat alles verändert. Das war ein Welterfolg. Egal, wo ich hingehe, alle in meinem Alter haben es gesehen und deren Eltern haben es auch gesehen. Das hat mir natürlich viele Türen geöffnet. Dadurch, dass ich auch in anderen Bereichen arbeite, habe ich mir den Luxus erlaubt, fast nur Sachen zu drehen, die ich sehr gerne machen wollte und die ich erzählenswert fand. Im letzten Jahr ist es jetzt sehr interessant geworden, auch der Schritt von den Nebenrollen zu den Hauptrollen. „Deutsches Haus“, „Zweiflers“, danach hab’ ich noch einen Techno-Flim gemacht übers Raven, der nur über mich erzählt wird. Das ist einfach sehr geil. Das ist ein sehr schönes Geschenk. Ich bin auch zum ersten Mal zufrieden damit, wie ich spiele. Seit „Zwischen uns die Nacht“.

Aaron Altaras über sein Schauspiel und seine Karriere

Haben Sie überhaupt irgendwann die Entscheidung getroffen, Schauspieler zu werden oder kam nun einfach das Eine zum Anderen?

Ich hab’ eigentlich Philosophie studiert in Amsterdam, und International Relations. Auch ganz gut. Als ich fast fertig war, hab ich „Die Unsichtbaren“ gedreht und habe dann ein Casting für, wie ich damals dachte, die Rolle meines Lebens bekommen, für „Mario“, einen schwulen Fußballer. Ich liebe ja Fußball und so eine Geschichte gab es noch nie.

Das war so 2017?

Ja, mein letztes Jahr im Studium. Da wäre ich fast von der Uni geflogen, weil alles gleichzeitig passiert ist. Mir ist klar geworden, dass ich beim Schauspiel noch mal von vorne anfangen müsste und mich das nicht traue. Ich bin vor der Versagensangst weggerannt. Aber ich habe mir dann eingestanden, dass ich das sehr gerne machen möchte und das vielleicht auch kann. Das hat jetzt zwar eine Weile gedauert, aber jetzt bin ich mit dem, was ich ausdrücken will, langsam da, wo ich hinwollte. Das war nicht immer der Fall, aber das ist eine gängige Reise, vor allem für Männer. Die Nachreifung dauert dann leider doch bis 30.

Was ist das für eine Nachreifung?

Naja, man sagt oft, dass männliche Schauspieler so mit Mitte 30 peaken. Ich glaube, das hat oft damit zu tun, dass Vielen die Tools fehlen, wie man mit seinem emotionalen Haushalt umgeht und wenn man mit seinem emotionalem Haushalt nicht umgehen kann, dann kann man sich auch nicht als Schauspieler entwickeln. Man muss als Mensch überhaupt erst mal Kontakt zu seinen Emotionen bekommen. Das ist ja kein Geheimnis. Aber bei mir wie auch bei anderen Männern hat es etwas gedauert.

Aber wie ist Ihnen das gelungen?

Ich bin ziemlich auf die Schnauze gefallen, letztes Jahr, mit einigen Lebensentscheidungen und wie ich so mein Leben gelebt habe und mit meinen Mitmenschen umgegangen bin und wie ich mit mir selber umgegangen bin. Ich hab’ diese Hilflosigkeit aber dann ziemlich offen in meinem Freundeskreis und bei meinen Eltern, bei meinen Partnerinnen und meinem Bruder gelebt. Ok, ja, offensichtlich funktioniert es so nicht. Hat viel mit Scham zu tun. Man läuft gegen eine Wand. Es wiederholen sich die gleichen Sachen. Dann hab’ ich einen Kahlschlag gemacht und bin da mit einer sehr positiven Energie rausgekommen. Und dann hab’ ich die „Zweiflers“ gedreht. Voll die Energie. Das konnte ich weitertragen. Jetzt bin ich sehr viel glücklicher und effizienter.

Was ist das für ein Wendepunkt?

Ich war schon in Sachen, die waren erfolgreich, da war ich aber nicht so gut, finde ich. Dann war ich in Sachen gut, die waren aber gar nicht erfolgreich. Jetzt bin ich einmal in etwas, was nach Cannes kommt, eine gute Serie, und ich mache gute Arbeit. Und vielleicht sieht auch noch jemand. Das gibt’s nicht so oft, dass alle Sachen gleichzeitig passieren.

Was sagten Sie vorhin während des Shootings über dieses Jahr?

Es ist das beste Jahr meines Lebens. Und es ist erst März. Es macht mir wirklich Spaß. Ich lerne viel. Die Lernkurve zeigt in die richtige Richtung.

Was Sie über das Nachreifen sagten … Warum gelingt das Frauen besser?

Weil sie müssen. Weil sie sozial so konditioniert werden, dass sie diese Arbeit, die Männer nicht machen müssen, eben machen müssen. Emotional Labour. Natürlich liegt auch viel Druck auf Männern. Aber du fährst als Mann halt sehr lange sehr gut, vor allem in deinen 20ern, ohne diese Arbeit machen zu müssen. Damit kannst du dein ganzes Leben so durchfahren, hast dann aber immer die gleichen Probleme. Es ist ja die Definition von verrückt, immer das Gleiche zu machen, aber ein anderes Ergebnis zu erwarten.

Was würden Sie jemandem raten, der feststeckt und nicht zu sich selbst durchdringen kann?

Wenn ich das wüsste … meine Freundin lacht sich tot! Ich hab’ das noch nicht ganz gelöst für mich, aber was wirklich hilft, ist, dass die Leute sich freuen, wenn man sie um Hilfe bittet.

Und das Philosophiestudium? Haben Sie das damals noch abgeschlossen?

Das war gemein. Die haben mich in einem Kurs durchfallen lassen. Wegen Abwesenheit. Meine Abschlussarbeit habe ich fertig geschrieben, über den Film “La Haine” und über Riots, sehr gut benotet. Aber den einen Kurs habe ich ein Jahr später nachgeholt. Ich bin jeden Mittwoch nach Amsterdam geflogen, ein halbes Jahr lang.

Und haben Ihren Abschluss gemacht!

Dann hab’ ich meinen Wisch bekommen. Hängt bei meiner Mutter im Klo.

Was ist das größte Geschenk, das Ihre Karriere Ihnen gemacht hat?

Ein Geschenk Gottes ist, dass ich kein Nine-to-Five mache. Der Luxus, dass ich mir mein Leben so einteilen kann, wie ich möchte. Das würde ich für fast nichts eintauschen. Ab und zu arbeiten, dann wieder nicht. Ich verstehe immer noch nicht, wer das erlaubt hat.

Die Unsicherheiten daran machen Sie nicht verrückt?

Ich bin ja noch relativ jung. Der Druck, der auf mir lastet, ist minimal.

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Miriam Marlene

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“Die Zweiflers”, ab dem 3. Mai 2024 in der ARD Mediathek

Ulf Pape ist Senior Culture Editor bei GQ.

PRODUCTION CREDITS:

Fotografie Miriam Marlene
Styling Léon C. Romeike
Grooming Leana Ardeleanu mit Produkten von Pat McGrath Labs und Byredo