Cartier-CEO Arnaud Carrez im GQ-Interview
Wie schafft man es heutzutage, sich von der Konkurrenz im Markt abzuheben? Was macht eine authentische Uhrenbrand aus und gehört eine teure Uhr eigentlich in den Safe oder ans Handgelenk? Wir haben mit Cartier-CEO Arnaud Carrez gesprochen.
GQ: Herr Carrez, was ist aktuell Ihr größter Zeitfresser?
Arnaud Carrez: Ganz eindeutig die Arbeit (lacht). Aber das ist auch okay so. Ich liebe das, was ich tue, und freue mich wirklich jeden Tag aufs Neue, mit meinem Team tolle Dinge umzusetzen. Auf Platz zwei kommen natürlich meine Familie und meine Kinder. Auch wenn sie selbstverständlich keine Zeitfresser sind und ich mir wünschen würde, noch mehr Zeit mit ihnen verbringen zu können. (Lesen Sie auch: Rolex- und Patek-Philippe-Uhren erreichen neues Preis-Tief)
Arnaud Carrez über den Umgang mit Zeit
Wenn Sie täglich eine Stunde geschenkt bekommen, wofür würden Sie sie nutzen?
Für meine Familie. Und für etwas Neues im Leben. Ich glaube, ich würde die Stunde aufteilen. Eine halbe Stunde für meine Familie und eine halbe Stunde, um etwas zu lernen. Ich bin ein sehr neugieriger Mensch und liebe es, mich mit neuen Dingen zu beschäftigen. Nur leider geht das im Alltag meist komplett unter. Wann haben Sie zuletzt etwas Neues gelernt?
Das ist schon eine Weile her…
Eben! Ich finde, jeder von uns sollte sich eine Stunde am Tag Zeit nehmen, um etwas Neues zu lernen. So wie früher in der Schule oder im Studium. Es ist superschade, dass wir das in unserem Erwachsenenleben so aus den Augen verlieren.
Gibt es da etwas Spezielles, was Sie aktuell gern lernen würden?
Ich habe sehr viele kulturelle Interessen, liebe es, ins Kino oder in Ausstellungen zu gehen, da gibt es eigentlich immer etwas zu lernen. Aber auch im beruflichen Umfeld gibt es immer wieder Möglichkeiten, sich weiterzuentwickeln. Ich mag es zum Beispiel total gerne, wenn man sich im Büro auch mal die Zeit nimmt, mit den Kollegen ins Gespräch zu kommen. Über Dinge zu sprechen, über die man noch nie gesprochen hat, Dinge, die sonst im Stress des Alltags untergehen. Ich finde, es gibt nichts Inspirierenderes als Menschen, die etwas Interessantes zu erzählen haben, die hinter einer Überzeugung stehen, für sie brennen und nach diesen Vorsätzen leben. Denen könnte ich stundenlang zuhören. (Kennen Sie schon? Cartier Crash: Diese Geschichte steckt hinter einer der ungewöhnlichsten Luxusuhren der Welt)
Welche Bedeutung hat Zeit für Sie generell?
Zeit ist die wichtigste Währung des Lebens, und gleichzeitig gibt es nichts, was für mehr Frustration sorgt. Eigentlich hat man immer zu wenig davon (lacht).
Können Sie sich noch an Ihre erste Uhr erinnern?
Natürlich! Es war ein Modell der Marke Casio. Eine Digitaluhr mit einem grau-blauen Metallarmband. Ich war damals so stolz auf diese Uhr, das kann man sich gar nicht vorstellen. Ich habe sie mit zehn Jahren bekommen und liebe sie bis heute. Mit ihr fand ich mich damals supercool (lacht). Heute würde ich vermutlich die Hände vor dem Gesicht zusammenschlagen.
Die Bedeutung einer Uhrensammlung
Wie viele Uhren sind über die Jahre noch zur Sammlung hinzugekommen?
Die genaue Zahl kann ich natürlich nicht nennen (grinst). Aber ich kann sagen, dass ich Uhren sehr liebe und natürlich eine kleine Sammlung besitze. In erster Linie Cartier-Modelle, aber nicht nur. Ich wechsele meine Uhren auch nicht jeden Tag. Die Liebesbeziehung kommt immer in Schüben. Aktuell trage ich eine „Santos“. Sie passt perfekt zu meinem Stil, kann im Büro, während des schicken Abendessens und am Wochenende mit der Familie getragen werden. Die perfekte Balance zwischen leger und elegant.
Und die Uhr bleibt dann Tage, Wochen oder Monate am Handgelenk, bevor ein anderes Modell seine Chance bekommt?
Genau. Manchmal wird gewechselt, wenn ein bestimmtes Ereignis vor der Tür steht, aber meistens ist es ein Bauchgefühl. Dann wache ich auf und spüre, es ist Zeit für einen Wechsel, ich muss mich verändern. Und dann kommt eine andere Uhr zum Zug.
Sie sagten in einem Interview, dass Sie selbst nach 26 Jahren bei Cartier immer noch Dinge über die Marke erfahren, die Sie überraschen…
Ja, und das hält bis zum heutigen Tag an. Die meisten Menschen sind sehr überrascht, wenn ich ihnen erzähle, dass ich seit 26 Jahren in demselben Unternehmen arbeite. Das gibt es heute nicht mehr so oft (lacht). Das ist quasi eine Langzeitbeziehung. Neugierde ist mein größter Antrieb, und ich liebe Cartier dafür, dass mich die Marke nach wie vor neugierig macht. Die Geschichte von Cartier ist wie eine nie endende Story. Es gibt immer wieder neue Anekdoten. Cartier ist wie ein lebendiges Erbe. (Passend: Von Bad Bunny über Roger Federer hin zu Ryan Gosling: Das waren die besten Uhren-Momente im September)
Die Uhr als Investitionsobjekt?
Für viele Menschen sind Uhren heutzutage eine Art Investitionsobjekt, es gibt Wartelisten und Limited Editions. Andere wiederum sagen, eine Uhr gehört ans Handgelenk und nicht in den Safe. Wie stehen Sie dazu?
Ich finde beides absolut in Ordnung. Jeder kauft eine Uhr aus einem anderen Grund. Es gibt Menschen, für die eine Uhr ein Investment ist. Sie möchten sie sicher im Tresor wissen und hätten gar keine Freude daran, sie jeden Tag zu tragen. Und dann gibt es die Menschen, für die sie eine Art Alltagsbegleiter ist. Sie möchten die Uhr nutzen und sich mit ihr zeigen. Das ist dann eher ein Invest in sich selbst als in das Bankkonto von morgen. Ob nun ein strategischer oder ein emotionaler Grund hinter dem Kauf steckt, den meisten Menschen geht es bei diesem Prozess um Stil und Sicherheit. Und Cartier ist eine Marke, die beides bietet. Wir stehen für Design und Qualität und haben in vielerlei Dingen mittlerweile Kultstatus. Der Wiederverkaufswert mancher besonderer Modelle hat in den letzten Jahren einen neuen Höhepunkt erreicht. Die Menschen wollen ein Teil der Cartier-Geschichte sein, ein größeres Kompliment gibt es nicht.
Die von Ihnen erwähnten besonderen Modelle werden auch bei der jüngeren Zielgruppe immer beliebter. Ändert es etwas an Ihrer Arbeit, dass nun auch schon junge Menschen Anfang 20 zu Kunden werden und Geld sparen, um sich ihre erste Cartier zu kaufen?
Nein. Uns war es schon immer wichtig, alle Kundengruppen anzusprechen. Ob Jung oder Alt, Mann oder Frau ist ganz egal. Und das zeichnet uns auch aus. Renommierte Designs wie die „Santos“, die „Panthère“ oder die „Ballon Bleu“ sind für alle Generationen gleichermaßen attraktiv. Sie sind universell und generationsübergreifend und deshalb auch über Jahrzehnte im Besitz von Familien.
Das heißt, Sie entwerfen Ihre Uhren, wie viele andere Marken, nicht für einen speziellen Kundentyp?
Nein. Wir wissen nicht, wer die Uhr tragen wird, und so soll es auch sein. Bei uns gab es von Beginn an keine Unterscheidung zwischen Männer- oder Frauenmodellen. Es gibt aufgrund des Handgelenkumfangs Modelle, die besser oder weniger gut passen. Aber in Sachen Design ist alles für jeden möglich.
Kann das manchmal für den Kunden auch überfordernd sein? Noch mehr Auswahl, noch weniger, an dem man sich festhalten kann?
Man muss auf jeden Fall wissen, was man will. Aber das muss man im Leben ja eigentlich immer (lacht). Es gibt VIP-Kunden, die mich direkt anschreiben und fragen, ob sie dieses oder jenes Modell tragen können. Da gebe ich dann auch immer das Feedback: Man kann alles tragen, was einem gefällt! Es liegt nicht an uns, den Kunden vorzugeben, was sie tragen können und sollen und was nicht. (Gut zu wissen: Rolex, Hublot, Cartier & Co.: Das sind die 15 berühmtesten Uhren der Welt)
Und wenn der Person die Uhr wirklich nicht steht?
Dann muss man das auch ehrlich kommunizieren, auch wenn das bei manchen Kunden natürlich nicht so leicht ist. Um einem VIP-Kunden ins Gesicht zu sagen, diese Uhr passt nicht zu dir, braucht es auf jeden Fall Mut (lacht). Aber gerade das macht auch eine gute Beziehung aus. Ein schlechter Verkäufer wird dem Käufer immer bestätigen, wie toll alles an ihm aussieht. Wenn man aber wirklich gut beraten will, sagt man auch offen und ehrlich, wenn etwas nicht ideal sitzt oder zum persönlichen Stil passt. Die meisten Kunden wissen das auch zu schätzen. Solch eine Erfahrung verändert das Vertrauensverhältnis maßgeblich.
Veränderungen in der Uhrenbranche
Wie schafft man es als Uhrenbrand, sich von den anderen Marken zu unterscheiden?
Durch seine Positionierung und sein Design. Wir sind bereits seit 1847 die Adresse für hochwertigen Schmuck und tolle Uhren und haben es in den letzten Jahren geschafft, diesem Erbe treu zu bleiben und uns parallel stetig weiterzuentwickeln. Das Wichtigste im heutigen Wettbewerb ist es, seiner Identität treu zu bleiben. Unser Credo ist ein zeitloser Stil. Das war es immer und wird es immer sein. Und deshalb kann uns hier auch keiner das Wasser reichen.
Wie wird sich das Verständnis von Uhren in den kommenden Jahren verändern?
Die Kundinnen und Kunden werden sich immer intensiver mit der Branche beschäftigen und immer mehr wissen wollen. Diese Veränderung nehmen wir aktuell schon wahr, und sie wird sich, so vermute ich, in den nächsten Jahren noch verstärken. Das Interesse und auch das Wissen auf der Kundenseite steigt enorm.
Was bringt diese Veränderung mit?
Es zwingt alle Marken zu noch mehr Authentizität und Aufrichtigkeit. Das Vertrauen in die Marke und eine gute Kommunikation mit den Kunden werden wichtiger denn je. Und die Kultur, die eine Marke lebt, die Position, die sie innehat, wird immer relevanter.
Ist Cartier sich seiner Position sicher?
Auf jeden Fall. Ich würde behaupten, wir haben in der Welt der Uhrmacherei durch unsere Geschichte als Juweliere bereits eine einzigartige Positionierung, die es so nicht noch mal gibt. Wir stehen für zeitloses, klassisches Design. Unsere Position und Kultur im Markt ist unverrückbar. Und genau das unterscheidet uns auch von anderen Marken, deren Branding vielleicht nicht ganz so klar ist. Die Kunden müssen wissen, was sie erwartet. Außerdem ist der Uhrenmarkt eher konsensorientiert, runde Uhren bestimmen immer noch das Geschäft. Wir bieten verschiedene Schattierungen des Möglichen an und unterscheiden uns so eindeutig von den Mitbewerbern. Dieses Alleinstellungsmerkmal wollen wir in den nächsten Jahren noch weiter verstärken. (GQ empfiehlt: Die Cartier Cheich ist eine der seltensten Uhren der Welt – und war bis vor Kurzem praktisch unbekannt)
Neben Schmuck und Uhren steht Cartier auch für besondere Accessoires und Düfte. Warum ist es als Marke so wichtig, sich immer wieder neuen Produktkategorien anzunehmen?
Wir wollen uns als Luxusmarke vielseitig aufstellen und den Kunden alles bieten, was sie glücklich macht, um so auch mit einem noch größeren Publikum ins Gespräch zu kommen. Das ist sowohl für die Markenbildung als auch für die Kundenbeziehungen von großer Relevanz. Cartier hat bereits früher Accessoires und Düfte hergestellt. Wir betreten hier also kein Neuland, sondern nehmen uns diesen Kategorien noch mal ganz neu an.
Zwischen globaler Brandausrichtung und lokaler Adaption
Cartier macht sich zunehmend auch außerhalb von Europa einen Namen. Wie schaffen Sie den Spagat zwischen globaler Brandausrichtung und lokaler Adaption?
Wir haben es in den letzten Jahren geschafft, unsere Position in den bekannten Märkten wie den USA, Europa, Japan und China zu stärken und unsere Präsenz in neuen Gebieten wie Saudi-Arabien, Thailand, Malaysia und anderen Ländern auszubauen. Wir sind ein französisches Haus, und diese Zugehörigkeit ist für uns auch extrem wichtig. Trotzdem wollen wir unsere Produkte natürlich der ganzen Welt zugänglich machen. Beim Kennenlernen der verschiedenen Länder ist und war es Cartier jedoch immer sehr wichtig, die lokalen Kulturen und Realitäten zu verstehen.
In Anbetracht der aktuellen Weltsituation gar nicht so einfach ...
Das stimmt. Aber es ist wichtig, den neuen Märkten nichts aufzuzwingen. Wir wollen ins Gespräch kommen, einen Dialog starten. Aktuell konvergiert und divergiert die Welt gleichermaßen. Es gibt nicht die eine Lösung, die für alle Realitäten angewendet werden kann. Und deshalb müssen wir, wenn es um die Kommunikation und die Markenbildung geht, die lokalen Gegebenheiten berücksichtigen, Vorlieben erkennen und Ökosysteme erforschen.
Steht das einem einheitlichen globalen Auftritt nicht manchmal auch im Weg?
Es ist ein schmaler Grat. Man sollte stets beide Ziele im Kopf behalten: globale Einigkeit und lokale Relevanz. Wenn es zum Beispiel um besondere Feste und Feiertage geht, werden die Kampagnen bei Cartier von lokalen Teams vor Ort betreut. Nur sie wissen, was es wirklich braucht, um die Menschen dort zu erreichen. Natürlich ist es wichtig, sich global auszutauschen und zu diskutieren, aber am Ende geht es darum, die Märkte so weit zu unterstützen, dass sie selbst autonom werden. Autonom, aber nicht völlig unabhängig.
Belebt der Wettbewerb das Geschäft oder würden Sie es begrüßen, wenn der Markt irgendwann gesättigt wäre?
Die Uhrenbranche ist sehr wettbewerbsintensiv. Es gibt einige große Uhrenmarken, zu denen wir gehören, aber auch sehr viele kleine Labels. Am Ende des Tages kommt es auf das richtige Image, ein tolles Design und gute Qualität an. Dann ist es auch egal, wie viele andere Marken sich sonst noch auf dem Feld tummeln. (Weiterführend: Herrenuhren: Das sind die 10 coolsten Uhrenmodelle unter 10.000 Euro, die ein Leben lang halten)
Die Welt hat gerade mit vielen großen Problemen zu kämpfen. Warum ist es dennoch in Ordnung, in ein Luxusprodukt wie eine hochwertige Uhr zu investieren?
Wir befinden uns aktuell in aufregenden und instabilen Zeiten, das stimmt. Und das auch nicht erst seit gestern. Trotzdem gehört Luxus immer noch zu unserem Alltag, weil er häufig mit besonderen Momenten in Verbindung steht. Ein schönes Schmuckstück oder eine tolle Uhr kaufen sich die meisten Menschen nicht einfach so, weil sie gerade Lust darauf haben. Es ist ein Geschenk. Ein Geschenk für sich selbst oder für die Liebsten. Eine besondere Geste, sei es in traurigen oder schönen Momenten. Deshalb sehe ich es, auch wenn die Welt gerade großen Herausforderungen gegenübertritt, als unsere Pflicht an, weiterhin schöne Objekte zu schaffen. Zeitlose Designs, die die Liebe und die Schönheit feiern und die für unsere Kunden zu emotionalen Leuchttürmen werden. Solche Stücke können ein Anker sein, sei es emotional oder monetär. Sie schaffen Vertrauen und Sicherheit, eigentlich genau das, was wir gerade am dringendsten brauchen.