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Der neue Deadpool-Star Emma Corrin im Interview: “Je verrückter, desto besser”

Von Prinzessin Diana zu Cassandra Nova. Bei einem Spaziergang durch London erzählt Corrin, wie sich die Arbeit mit den Rollen verändert.
Emma Corrin GQ Hype Cover mit weißem Cowboyhut

Emma Corrin spielte die junge Prinzessin Diana in “The Crown”. Mit der Rolle in “Deadpool & Wolverine" taucht Corrin erstmals in das Böse ein.

Es ist ein grauer Frühlingsmorgen in Hampstead Heath im Norden von London, als die Sonne zum ersten Mal seit Tagen die Wolkendecke durchbricht. So, als hätte sie sich ihre ersten Strahlen für den großen Auftritt von Emma Corrin aufgespart. Corrin verbringt die Vormittage an den meisten Tagen genau hier. Einen Kaffeebecher in der Hand haltend mit Spencer, Corrins Hund, an der Seite. “Er ist gerade drüben, vielleicht treffen wir ihn”, so Corrin, den Blick über das Feld schweifend, wo Spencer in der Hundetagesstätte tobt.

Die verschlungenen Wege und sanften Hügeln machen den Park in der englischen Metropole zu einem ruhigen Ort, an dem man sich verlieren kann. Was für Corrin nicht immer eine gute Sache ist. “Mein Therapeut sagt: ‘Sie haben zu viel Zeit zum Nachdenken’”, so Corrin lachend. Tatsächlich ist in letzter Zeit viel passiert, worüber Corrin nachdenken konnte. Seit der Rolle der jugendlichen Prinzessin Diana in “The Crown”, wurde Corrin auf Trab gehalten. Es folgten weitere historische Dramen über isolierte Frauen, die in ähnlich erdrückenden Ehen steckten wie Diana. Die Rede ist von “My Policeman” und “Lady Chatterley’s Lover”. Gefolgt von einem markanten Schwenk durch die Rolle eines detektivischen Hackers in der so unterschätzten Miniserie “A Murder at the End of the World”.

Emma Corrin spielt in “Deadpool & Wolverine” mit

Diesen Sommer jedoch spielt Corrin die wohl größte Rolle der bisherigen Karriere und steigt mit “Deadpool & Wolverine” in eine ganz andere Stratosphäre auf. Der dritte Teil des Superhelden-Franchise von Ryan Reynolds kommt zu einer wenig beneidenswerten Zeit, in der das Marvel Cinematic Universe keine Gelddruckmaschine mehr ist und die Abendkasse um einen Adrenalinschub bettelt. Ironischerweise fühlt sich der Film trotzdem wie eine sichere Bank an.

In “Deadpool” legt Corrin das Image der strengen Frauen, das Corrin bisher mit den Rollen geprägt hat, ab – und übernimmt jetzt die der Cassandra Nova. Allein der Name wird bei Kennenden einen Schauer auslösen: Cassandra ist eine Außerirdische mit telepathischen Kräften. Im “Deadpool”-Trailer sehen wir, wie sie die Gliedmaßen von Wolverine wie eine Marionette manipuliert. Darauf angesprochen bleibt Corrin wortkarg. Der vollständige Trailer wird noch veröffentlicht, Informationen über die Rolle sollen geheim bleiben. Und Corrin weiß genau, was passiert, wenn eine Schauspielende aus dem Marvel-Universum ein streng gehütetes Geheimnis ausplaudert. Wir sind auf dem Weg zu einem Lieblingscafé von Corrin. Im Gespräch hält sich der Star an die Regeln und will die Informationen rund um die Rolle für sich behalten. Auch das Argument, dass man es doch rausfinden könnte, wenn man nur lang genug suchte, überzeugt nicht. “Das ist mir egal, tut mir leid, aber das ist Marvel”, sagt Corrin mit entschuldigender Stimme.

Beim Verlassen des Parks, wirft ein Passant Corrin einen Blick voller Anerkennung zu. Corrin antwortet mit einem höflichen Lächeln und es fühlt sich an, als hätte Corrin sich an das neue Leben gewöhnt, indem Leute grüßen, die einen nicht kennen. Dazu gehört auch die Akzeptanz einer neuen Normalität, in der man jederzeit erkannt werden kann und in der Spaziergänge durch Hampstead Heath nicht unbedingt leichter werden dürften.

T-Shirt, Sweeney Toddla.

Es fällt Corrin schwer, die Balance zu halten

Aktuell jedoch herrscht eine Pause. Abgesehen von einem dreiwöchigen Einsatz bei den Dreharbeiten zu “Deadpool & Wolverine”, nachdem der SAG-AFTRA-Streik im letzten Sommer eine Produktionspause erzwungen hatte, folgte Corrin seit nun fast einem Jahr keiner geregelten Arbeit mehr. Zum Teil war diese Pause auch ein Segen: Corrin traf sich mit Freund:innen und Familie, las und schaute John Cassavetes und Wong Kar-wai-Filme. All diese neu gewonnene Zeit gab Corrin die Möglichkeit, sich neu zu orientieren und neue Energie zu tanken – und dabei nicht zu viel nachzudenken. “Doch seit der Pause ist es nicht mehr ausgeglichen”, so Corrin. “Und es fühlt sich an, als wäre das hier Scheiße. Ich mache nicht einmal das, was ich liebe”.

Eine Zeit lang hatte es den Anschein, als habe Corrin das Gleichgewicht gefunden. Die Rollen waren Corrin nah. Derby aus “A Murder at the End of the World” mit ihrem pfirsichfarbenen Haar, ihrer maskulinen Garderobe und einem reichen Innenleben passte zu Corrin. “Was mir wirklich an ihr gefiel, war, dass sie sehr offen mit der Tatsache umgeht, dass sie keine Antworten hat. Was meiner Meinung nach ziemlich selten ist und was die [Schöpfer] Brit [Marling] und Zal [Batmanglij] auf jeden Fall zeigen wollten, um einen Unterschied bei weiblichen Detektiven zu markieren”, erklärt Corrin. Die Serie gehörte zu den Opfern des Streiks, die, als sie dann doch erschien, nicht von der breiten Masse wahrgenommen wurde. “Es ist eine Schande, weil alle, die sie gesehen haben, die Serie wirklich mochten”, erklärt Corrin. “Und außerdem war es ein wirklich harter Job”. Das Team verbrachte sechs Monate mit den Dreharbeiten in New York, dann gingen sie nach Island, dem Schauplatz des titelgebenden Todesfalls auf dem Anwesen eines Millionärs – wo eine Covid-Sperre aus den zweiwöchigen Dreharbeiten einen Monat machte.

Corrin fühlte sich den letzten Rollen nah – das war nicht immer so

Auch “Orlando” war Corrin nah. Dabei handelt es sich um eine Theateraufführung im Londoner West End von Virgina Woolfs Epos über Orlando, einen jungen Adligen am Hof von Königin Elisabeth I. der sich auf ein Abenteuer begibt, durch Zeit und Raum reist, sich verliebt und irgendwann als junge Frau in Konstantinopel aufwacht. Orlando setzt ihre Reise auf der Suche nach Identität bis in die Gegenwart fort und fragt sich immerzu: Wer bin ich eigentlich? Corrin spielte Orlando und gesteht: “Ich vermisse es wirklich. Ich wusste gar nicht, wie sehr es mich bestätigen würde, jeden Tag etwas zu spielen, das mir so nah geht. Etwas, das sich unglaublich persönlich und feierlich anfühlt. Die Atmosphäre in diesem Theater am Ende der Show war unglaublich. Ich hatte das Gefühl, dass es wirklich einen Unterschied macht, diese Geschichte auf diese Weise zu erzählen, in einem so heilenden Raum der unmittelbaren Verbindung. Es ist eine echte Feier der Fluidität.”

Das war nicht immer so. Unmittelbar nach “The Crown” konzentrierte sich Corrin auf historische Rollen, die kaum von der Prinzessin zu unterscheiden waren. Corrins schlimmsten Befürchtungen wurden wahr, als die Angebote kamen. “Wir sind in einer Branche, die es liebt, in Schubladen zu stecken”, sagt Corrin und nimmt einen Schluck Kaffee. “Sie nehmen etwas für bare Münze, und wenn man das auf etwas so viel Grundlegendes, Tiefes und Nuanciertes wie das Geschlecht anwendet…”, seufzt Corrin und atmet resigniert aus. “Es ist wirklich schwierig.”

Top, Cassie Mercantile. Halskette, Cartier. Hose, Acne Studios.

T-Shirt, Bally. Hose, JW Anderson. Schuhe, Adidas.

Der steinige Prozess der Selbstfindung

Corrin wurde als Kind auf ein Internat für Mädchen geschickt. Der letzte Ort, an dem man als junger Mensch sein möchte, wenn man sich in der binären Gesellschaft fehl am Platz fühlt. Es gibt Zeiten, wenn man jung ist, da kann man ehrlich und ganz man selbst sein. Corrin kaufte ausschließlich in der Jungen-Abteilung von Gap ein und trug überall ein Fernglas mit sich herum. Dann dringt die reale Welt ein und mit ihr ein gesteigertes Bewusstsein dafür, wie sehr man sich von anderen unterscheidet. Was immer selbstverständlich war, wirkt auf einmal unpassend. “Jemand hielt mich für einen Jungen und forderte mich zum Tanzen auf, was zu einem großen Witz in meiner Klasse wurde”, erinnert sich Corrin. “Von da an fing ich an, mich anzupassen. Ich ließ mir die Haare wachsen und krempelte meinen Rock hoch.”

Als Corrin sich im Jahr 2021 als nicht-binär outete, wurde die eigentlich so private Angelegenheit der Selbstfindung für die Welt sichtbar gemacht. Corrin beschreibt es heute als “Headfuck”. Gleichzeitig verlangte die Industrie nach Etiketten und Kategorien. “Man geht ganz frisch und aufrichtig an die Sache heran”, so Corrin. “Und dann wirst du immer wieder zurückgeworfen und dann kommst du raus und sprichst über deine Identität und dann fängt es wieder an. Sie machen blöde Clickbait-Schlagzeilen, durch die du dich beschissen fühlst und setzen deine Identität als Waffe gegen dich ein.” Jetzt jedoch sei Corrin vorsichtiger, sich selbst gegenüber. Corrin wolle sich um die Person kümmern, die man durch Kategorisieren versuchte auszulöschen. “Es ist schön, wenn man darüber nachdenkt, dass sich tatsächlich um das Kind von damals gekümmert wird”, sagt Corrin.

Mantel, Bally. Oberteil, Joe Sweeney.

“Es war der größte und beste Spielplatz der Welt”, so Corrin über die Dreharbeiten

Es ist keine einfache Zeit, um die Hauptrolle in einem Marvel-Film zu spielen. Das Publikum scheint der Superhelden überdrüssig. War das Studio früher ein Garant für erfolgreiche Film-Lancierungen, sieht sich Marvel heute mit einer schwachen Quote konfrontiert. Trotzdem ist man sich sicher, dass “Deadpool & Wolverin” die Erwartungen übertreffen wird. Die Prognosen der Kinos deuten auf schwindelerregende Zahlen hin, es sollen 200 Millionen Dollar eingespielt werden. Doch Corrin sieht auch den verblassenden Ruhm des Marvel Universums.

“Es lastet eine Menge Druck darauf, aber ich denke, dass es der richtige Film zur richtigen Zeit ist. Weil es Deadpool ist, und Deadpool hat es schon immer geschafft. Deshalb ist Ryan [Reynolds] ein wahres Genie.” Angesichts der zunehmenden Lethargie des Genres wurde der Film an selbstgebauten Sets gedreht, im Gegensatz zu den Green-Screen-Schandflecken, die in den vergangenen Jahren dominierten. Es war der “größte und beste Spielplatz der Welt”, so Corrin. “Erst war es das sicherste Genre, dann kam der absteigende Ast und jetzt soll es gerettet werden.”

Eine böse Rolle zu spielen, war ein Nervenkitzel für sich. Für die Recherchen vertiefte sich Corrin in die klassischen Antagonist:innen des Kinos und ließ sich von Christoph Waltz' Nazi-Offizier in “Inglourious Basterds” und “einem der besten Bösewichte aller Zeiten”, Gene Wilders Willy Wonka, inspirieren. “Gene Wilders Darstellung hat etwas Extravagantes an sich”, sagt Corrin. “Und es ist eine ähnliche Energie wie die von Christoph Waltz in ‘Inglourious Basterds’,denn er trägt eine Uniform, damit er dasitzen, ein Glas Milch trinken und so tun kann, als wäre er eine verdammte gute Fee.”

Jumpsuit, Bottega Veneta. Uhr, Cartier. Vintage-Stiefel, Contemporary Wardrobe.

Corrin lebt für diese Art von Herausforderung. Für “Nosferatu”, Robert Eggers’ Neuverfilmung des Horror-Klassikers von 1922 und des Original-Vampirfilms, sollte eine unscheinbare Aufnahme von Corrin gemacht werden. Darin sollte Corrin einen Korridor entlanggehen – doch Corrin selbst sollte sich dabei beleuchten. “Ich dachte mir: ‘Wollt ihr mich verarschen? Ihr könnt mir diese Verantwortung nicht aufbürden! Ich kann das nicht, ich mache das nicht”, erinnert sich Corrin. Es sei eine ganze Choreografie gewesen, den Arm so zu positionieren, dass das Bild perfekt ausgeleuchtet wurde, während das Kabel der Lampe an Corrins Morgenmantel herunterlief. “Kann ich das jetzt in meinem Lebenslauf schreiben? Bekomme ich auch Credits für die Beleuchtung?”, scherzt Corrin.

Trotzdem war die Arbeit an “Nosferatu” gewöhnungsbedürftig. Eggers, der für seine intensiven Recherchen bekannt ist, stellte Corrin eine Art Bibel über das gesamte Leben der Rolle zur Verfügung: “Es wurde sogar das Lied genannt, zu dem sie tanzte, als sie ihren Mann kennenlernte”, so Corrin. Die Szenen wurden wie ein Theaterstück geprobt und der notorisch perfektionistische Filmemacher hatte jede kleinste Bewegung im Voraus geplant. So, als würde er die Schauspielenden in seinem makabren Puppenhaus als Puppenspielende einsetzen. Es wurde viel über Eggers Treue zu zeitgetreuen Dialogen gesagt. Doch egal wie befremdlich die Dialoge auf das Publikum auch wirkten. Corrin hatte keine Probleme damit, sie zu verstehen.

Anzug, Saint Laurent. Vintage-Oberteil, Contemporary Wardrobe. Armband, Cartier.

Emma Corrin hat ein eigenes Tempo gefunden

Wir sitzen auf der Außenterrase des Cafés. Die Sonnenstrahlen zwingen uns, die Mäntel und Schals abzulegen. Doch Corrin hat keine Zeit, um die neue Wärme zu genießen. Während ein Uber gebucht wird, das Corrin zum nächsten Meeting bringen soll, fühlt es sich an, als wäre die Pause nun endgültig vorbei. In der Woche nach unserem Treffen fliegt Corrin ans andere Ende der Welt, um “Peaches” zu drehen. Eine Neuinterpretation des surrealistischen Klassikers “Daisies” von der aufstrebenden Regisseurin Jenny Suen. Es ist einer dieser radikalen Veränderungen, nach denen sich Corrin sehnt: Der Film verlegt den tschechischen Schauplatz des Originals nach Hongkong und erzählt die Geschichte zweier jungen Frauen, die eine Menge Chaos anrichten, um dem Patriarchat den Mittelfinger zu zeigen.

Am liebsten jedoch würde Corrin in einem “Campy Horror” mitspielen. Darüber hinaus jedoch sind Corrins Ambitionen nebulös und vom eigenen Instinkt getrieben. “Ehrlich gesagt, im Moment ist es so: Je verrückter, desto besser. Deshalb freue ich mich darauf, “Peaches” zu machen.” Gemeinsam mit Freundin Avigail Tlalim schrieb Corrin ein Drehbuch, das seit 2019 in Arbeit ist. Die beiden planen auch, gemeinsam Regie zu führen. Derzeit versuche Corrin, die Geldmittel zu beschaffen. “Wenn jemand meinen ersten Spielfilm finanzieren will, wäre das wunderbar!” – und allein dieser Prozess sei schon eine Lehre gewesen. “Es wird so lange dauern, wie es dauert, und es wird das Richtige sein, wenn es passiert.” Ist das Filmprojekt zu risikoreich? Noch wollen keine Details verraten werden.

“Ja und Nein. Ich glaube nicht, dass es das ist, aber ich denke, dass die Leute, die es finanzieren, sagen werden: ‘Das will ich nicht machen.’ Das scheint die zunehmende Realität in der Branche zu sein: Die Leute öffnen ihre Brieftaschen nicht für die Kunst, sondern für die sicherste Investition. Das ist das Komische an diesem Job. Die Leute, die die Schecks unterschreiben, sind so weit von den Dingen entfernt, über die wir eigentlich schreiben.”

Jedes Hindernis, ob privat oder beruflich, scheint auf dieser Forderung nach Konformität zu beruhen: “Wie auch immer deine Identität zu dir spricht, der Druck sich anzupassen ist stärker”, überlegt Corrin. “Es hat eine Weile gedauert, bis ich mich davon losmachen konnte, um herauszufinden, wie ich mich präsentieren will.” Jetzt bewegt sich Corrin im eigenen Tempo und wählt Rollen, die herausfordern und dieses Tempo bestätigen. Und wenn es diese Rollen nicht gibt, dann wird Corrin sie wohl in Zukunft selbst schaffen.

Jacke, Prada. Socken, Pantherella. Turnschuhe, Adidas.


“Deadpool & Wolverine” erscheint am 25. Juli auf Disney +.

PRODUCTION CREDITS:


Styling: Sam Ranger
Haare: Daniel Martin
Make-up: Gina Kane von Caren mit ShiSeido
Maniküre: Cherrie Snow von Snow Creatives mit Hermès

ADAPTATION:

Angelika Watta