Long Nguyen ist GQ Gentleman 2021 – und das Finale unter Corona-Bedingungen und mit sehr herausfordernden Challenges war alles andere als ein Zuckerschlecken. Der 26-Jährige konnte sich in Baden-Baden gegen neun herausragende Kandidaten durchsetzen.
Im sehr intimen GQ-Interview spricht Nguyen über seine Herkunft, Heimat, Familie und über anti-asiatischen Rassismus, dem auch er seit Ausbruch der Corona-Pandemie wieder vermehrt begegnet. Trotz allem blickt er positiv in die Zukunft als GQ Gentleman 2021 und verrät, wie der Sieg seine Selbstwahrnehmung verändert hat.
GQ: Herr Nguyen, wie fühlt man sich als frischgebackener GQ Gentleman 2021?
Long Nguyen: Das ist schon ein verrücktes Gefühl. Ich hatte den Sieg nicht erwartet, aber umso mehr hat er mich gefreut. Es war ein harter Kampf, weil sich unter meinen Konkurrenten einige Hochkaräter befanden . Als ich das Cover in der Hand hatte, fühlte es sich so an, als ob der drei- oder vierjährige Long irgendwo angekommen ist. Einfach sehr emotional.
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Was hat Ihrer Meinung nach den Ausschlag für Ihren Sieg gegeben?
Ich entspreche nicht dem Schönheitsideal und ich bin kein Gentleman, wie man ihn vielleicht aus der Vergangenheit kennt. Allerdings wollte ich die Jury durch meine Persönlichkeit, meine Vergangenheit, meinen Lebensweg davon überzeugen, dass ich eben doch ein Gentleman bin: Es muss nicht alles perfekt sein – und gerade das wollen Menschen sehen, weil sie sich damit identifizieren können.
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Sie studieren noch und leben in einer Studenten-WG. Was haben die Mitbewohner denn zu Ihrem neuen Titel gesagt?
Die waren sehr glücklich. Sie haben nicht daran geglaubt, weil sie dachten, dass GQ den Fokus auf andere Dinge legt – aber umso mehr haben sie sich für mich gefreut und mir den roten Teppich ausgerollt. Wirklich! Aus einer roten Jacke, einer roten Langhantel, roten Hantelscheiben. Das war schon sehr cute.
Sie haben als Entwicklungsingenieur in Bangladesch gearbeitet. Inwiefern hat Sie die Zeit dort geprägt?
Ich war dort als Expat, wurde also von einer Firma dorthin entsendet, und hatte weitgehend die Lebensstandards, die ich auch von zuhause kannte. Laufendes Wasser, Elektrizität, eine Internetverbindung, sichere vier Wände – das ist für uns normal. Dort ist das nicht für jeden alltäglich. Ich bekam auch Führungen in Firmen. Das waren teilweise Verhältnisse, die hätte ich mir nicht vorstellen können. Ja, die kennt man aus Dokus, aber wenn man da wirklich drin steht – das ist nicht menschenwürdig. Das sind Erfahrungen, die lassen mich anders auf die Welt blicken.
Was bedeutet Reisen für Sie?
Ich möchte Menschen und ihre Kulturen kennenlernen. Ich will wissen, wie es sich anfühlt, in einem anderen Land zu leben. Ich bin als Vietnamese in Deutschland aufgewachsen. Beide Länder fühlen sich nicht nach Heimat an. Ich glaube, das Reisen ist für mich eine Suche nach einem Zuhause.
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Weder Vietnam noch Deutschland sind für Sie Heimat?
Ja, das haben Sie richtig verstanden. Jetzt habe ich ein Fass aufgemacht. (lacht)
Auf jeden Fall, das ist interessant…
Ich bin ja durch und durch deutsch: Hier aufgewachsen, hier studiert und ich arbeite hier. Aber – jetzt kommt das Aber: Es gibt jeden Tag Momente, an denen ich erlebe, dass ich nicht deutsch bin. Klar, da ist mein Aussehen. Ich merke es aber auch an der Mentalität. Es mag ein Klischee sein, aber in Deutschland geht man eher strukturiert durchs Leben – so bin ich eben nicht und da ecke ich auch manchmal an. In Vietnam bin ich wiederum zu deutsch und zu straightforward. Das kommt in Vietnam nicht gut an, wenn ich anderen meine Meinung geige – das macht man dort einfach nicht. Irgendwie gehöre ich dort auch nicht dazu.
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Rassismus gegen Menschen asiatischer Herkunft ist gerade ein großes Thema – vor allem aufgrund des Coronavirus. Erleben Sie das auch?
Ich bin mit Rassismus aufgewachsen. Ich wurde während meiner Jugend mindestens einmal pro Woche von der Polizei kontrolliert. Was auch ok ist…
Naja, da kann man darüber streiten, ob das ok ist…
Was tatsächlich nicht ok war: Die Polizisten aus diesem kleinen Dorf kannten mich ja schon. Die wussten, dass ich aufs Gymnasium gehe und dass ich keine Drogen nehme. Und trotzdem kontrollierten sie mich. Während des Studiums war es besser. Klar gab es Witze, bei denen ich die Punchline war, aber da stehe ich drüber. Mit dem Coronavirus hat es allerdings angefangen, dass mir vor allem ältere Menschen auf der Straße aus dem Weg gegangen sind und mich komisch gemustert haben. So etwas habe ich noch nie erlebt, und das hat mich wirklich verletzt.
Wie kam Ihre Familie nach Deutschland?
Meine Eltern zogen aus Vietnam nach Russland und bauten in Moskau ein Stoffgeschäft auf. Dort spitzte sich die politische Lage allerdings so zu, dass sie als Asylbewerber nach Berlin kamen. Da meine Mutter mit meinem großen Bruder hochschwanger war, wurde der Antrag angenommen und sie wurden dann nach Wunsiedel versetzt, wo ich aufgewachsen bin. Mein Vater rutschte dann auf die kriminelle Schiene ab, sodass sich meine Mutter von ihm getrennt hat – ohne Deutsch zu sprechen. In Vietnam war sie Lehrerin, hat dieses Leben aber für mich und meinen Bruder aufgegeben. Damit wir ein gutes Leben in Deutschland haben können. Das rechne ich ihr bis heute hoch an. Das ist alles für mich!
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Eine starke Frau…
Auf jeden Fall. Zum Glück hatten wir auch die Unterstützung eines älteren Ehepaars aus der Nachbarschaft. Während meine Mutter arbeitete, kümmerte sich dieses Paar, das selbst keine Kinder hatte, um uns, sie kochten für uns und haben uns die bayerische Kultur gelehrt. Deshalb fränkel ich auch ein bisschen. (lacht) Das sind meine Großeltern. Familie hat nichts mit Blut zu tun, sondern mit dem Gefühl von Familie.
Haben Sie eine Vaterfigur in Ihrem Leben vermisst?
Definitv, aber das war mir anfangs nicht bewusst. Ich hatte zwar keine Probleme in der Schule, war aber ein Rebell. Ich konnte nicht viel mit Autorität anfangen. Ich war ein sehr impulsiver Mensch und hatte meine Emotionen nicht gut unter Kontrolle. Irgendwann habe ich angefangen zu hinterfragen, woher diese Wut und dieser Hass in mir kommt. Und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es daran lag, dass ich ohne Vater aufgewachsen bin – und ich habe ihn dafür gehasst, dass er uns in einem fremden Land im Stich gelassen hat.
Glauben Sie, dass Sie Ihrem Vater irgendwann verzeihen können?
Das ist eine krasse Frage. Ich weiß nicht. Das kann ich Ihnen erst sagen, wenn es so weit ist – wenn ich ihn kennenlerne und merke, dass er vielleicht gar kein so schlechter Mensch ist, sondern damals seine Fehler gemacht hat und für eine Familie nicht bereit war. Kann allerdings auch sein, dass ich ihn nach einem Kennenlernen noch mehr hasse.
Man soll ja immer mit etwas Positivem enden. Auf was freuen Sie sich am meisten, wenn Sie auf die Zukunft als GQ Gentleman 2021 blicken?
Ich freue mich darauf, dass ich jetzt Teil des GQ-Teams bin und dass wir zusammen etwas Cooles auf die Beine stellen – und den Menschen zeigen, dass man nicht perfekt sein muss. Das macht mich stolz – und das ist das erste Mal, dass ich wirklich Stolz empfinde. Ich habe eingangs schon darüber gesprochen, dass sich das Cover so anfühlt, als ob der kleine Long sich gefunden hat. Gleichzeitig sehe ich auf dem Cover aber auch einen zukünftigen Long, der extrem stark ist und Gutes bewegen kann.