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“Kinds of Kindness” im Kino: Warum der düstere Film mit Emma Stone das Publikum spaltet

Der neue Film von Yorgos Lanthimos mit Emma Stone widmet sich in drei Episoden der Liebe als Abhängigkeit. Das ist weder herzerwärmend, noch aufschlussreich.
Kinds of Kindness mit Margaret Qualley Jesse Plemons und Willem Dafoe
Disney

“Kinds of Kindness” bringt mit Emma Stone, Willem Dafoe und Jesse Plemons ein Starensemble auf die Leinwand, das sich über drei Episoden in vertrackten Liebesbeziehungen gegenseitig malträtiert.

Liebe ist kaum etwas anderes als Abhängigkeit und Sex kaum etwas anderes als Perversion. So zumindest stellt Regisseur Yorgos Lanthimos es kategorisch in seinem neuen Film “Kinds of Kindness” dar und dürfte damit für Hochkonjunktur bei Intimitätskoordinatorinnen und -koordinatoren sorgen. Sie sind seit der #MeToo-Debatte von Filmsets kaum noch wegzudenken und tragen dafür Sorge, dass die Schauspielerinnen und Schauspieler bei den Dreharbeiten nicht in ihren persönlichen Grenzen verletzt werden.

Zur Vorbereitung, so hört man, haben Emma Stone, Willem Dafoe, Margaret Qualley, Jesse Plemons und weitere Mitglieder des Casts etwa das Kindergeburtstagsspiel “Reise nach Jerusalem” gespielt – im Dunkeln. Lanthimos möchte mit Übungen wie diesen seine Darsteller dazu bringen, sich voreinander nicht mehr zu schämen. Und tatsächlich sind es extrem intensiver schauspielerische Leistungen. Jesse Plemons erhielt sogar die Goldene Palme als bester Darsteller. Was allerdings die gestörten Liebesbeziehungen, aus denen “Kinds of Kindness” sich zusammensetzt, uns Neues über die Liebe vermitteln sollen, bleibt allein das Geheimnis des Regisseurs und Co-Autors Yorgos Lanthimos. (Lesen Sie auch: Diese 26 Serien widmen sich der Lust)

“Kinds of Kindness” ist kluges Verstörungskino: Aber wer will da schon einsteigen?

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“Kinds of Kindness": Die Handlung und worum es wirklich geht

Die Handlungen der drei Episoden sind voneinander getrennt, aber jeweils mit demselben Cast besetzt. Was diese Episoden gemein haben, ist ihr Thema: Ein gnadenloser Blick auf Paar- und Familienbeziehungen, in denen Liebe fast ausschließlich als schreckliche Abhängigkeit, toxische Qual oder perverser Lustgewinn dargestellt wird.

In der ersten Episode etwa spielt Jesse Plemons einen unterwürfigen Angestellten, der sich von seinem Boss (Willem Dafoe) sein gesamtes Leben diktieren lässt, auch die Wahl seiner Partnerin, gespielt von Hong Chau, wann und wie er mit ihr schlafen solle und welches Körpergewicht er auf die Waage zu bringen habe. Er sagt ihm im Wolkenkratzer-Office: “Du musst ein paar Pfund zulegen. Dünne Männer sind das bei Weitem Lächerlichste auf der Welt.” In der zweiten Episode wiederum ist Plemons ein Polizist, dessen Ehefrau (Emma Stone) verschwunden ist, woraufhin er sich mit einem befreundeten Paar voller Sehnsucht Videos von dem Gruppensex anschaut, den die vier in der Vergangenheit zusammen hatten.

Die dritte Episode erzählt von einer Art Sekte, deren Guru (Willem Dafoe) eine Frau (Emma Stone) dazu verpflichtet, ein Ritual zu initiieren, mit dem Tote zum Leben erweckt werden. (Lesen Sie auch: 20 Sexfilme der letzten zehn Jahre, die Sie kennen müssen)

Hong Chau spielt die Frau des Sektenführers, der von Willem Dafoe genial und absurd zugleich gespielt wird

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Zwischen Dominanz und sexueller Gewalt

Regisseur Yorgos Lanthimos macht seinem Ruf als Meister der Verstörung einmal mehr alle Ehre. Er wirft die ganz großen Fragen des menschlichen Miteinanders auf und erzeugt immer wieder auch ureigene Bilder, die keiner Reminiszenz bedürfen, sondern pures Lanthimos-Kino sind. Wenn etwa der Guru und seine Frau (Hong Chau) eine einzige Träne in ein Bassin weinen, aus dem ihre Jünger anschließend Wasser für sich abfüllen, erinnert das an das leidvolle Warten auf ein Zeichen der Liebe und Anerkennung, das Menschen in unerfüllten Beziehungen erleben. Aber “Kinds of Kindness” wirkt leider an vielen Stellen wie ein Kind, dass permanent um Aufmerksamkeit schreit und wenn man sich dann diesem Kind widmet, sagt es: “Haha, ich versteck mich!”

Es sind sehr interessante Fragestellungen, derer Lanthimos sich annimmt. Wie abhängig bin ich von der Liebe, die ich erlebe? Wie weit gebe ich mich selbst für sie auf? Was für Dynamiken ergeben sich zwischen Unterwerfung und Dominanz? Um Antworten auf diese Fragen zu kreieren, verlangt der Film nicht nur seinem Publikum viel ab. Insbesondere den Darstellerinnen Emma Stone, Margaret Qualley und Hunter Schafer verlangt Lanthimos auch sehr viele Nacktszenen ab. Eine Vergewaltigungsszene, gespielt von Joe Alwyn und Emma Stone steht wie ein Monolith aus der dritten Episode heraus, ohne irgendwie zu einem Verständnisgewinn zum Thema des Films beizutragen. Und an genau der Stelle müsste der Regisseur sich selbst ein Intimitätskoordinator gegenüber seinem Publikum sein. Warum müssen wir uns diese Vergewaltigung anschauen? Warum müssen die Schauspieler sie spielen und warum verschwindet die Vergewaltigung dann direkt in einem dramaturgischen Nirgendwo? (Lesen Sie über den Höhepunkt des Vorjahrs: “Killers of the Flower Moon” in Cannes: So lief die Weltpremiere mit des neuen Martin-Scorsese-Films mit Leonardo DiCaprio und Robert De Niro)

“Kinds of Kindness” mit Emma Stone und Joe Alwyn: Auf dieser Beziehung liegt kein guter Segen

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Wie die Weltpremiere von “Kinds of Kindness” in Cannes lief

Als im vergangenen Mai kurz vor der Weltpremiere die Stars des neuen Films von Yorgos Lanthimos über den roten Teppich defilierten, ließ Emma Stone sich ganz oben auf der berühmten Treppe des Festivalpalasts zu einem kleinen Tanz hinreißen. Die Kameras der Presse ratterten natürlich. Das Tänzchen steht für die aufgeladene Stimmung kurz vor der Vorführung. Kaum ein Filmemacher genießt derzeit so hohes Ansehen wie Yorgos Lanthimos, dessen letzter Film “Poor Things” mit elf Nominierungen bei der letzten Oscar-Verleihung antrat und vier Oscars mit nach Hause nahm. (Lesen Sie auch: Das sind die besten Filme von Yorgos Lanthimos)

Als die Schauspielerinnen und Schauspieler, der Regisseur und Teile seines Produktionsstabs schließlich in den Saal des Kinos einliefen, fiel schon vor dem Film der Applaus für ihre bloße Anwesenheit so heftig aus, wie man es selten vor einem Film erlebt. Unter den Premierengästen befanden sich auch Kirsten Dunst, die Ehefrau von Jesse Plemons, Lily Gladstone und Eva Longoria. Die ersten Bilder des Films, die dann über die Leinwand liefen, setzten mit dem Song “Sweet Dreams” von Eurythmics ein und das Publikum klatschte im Takt mit. Die Stimmung kochte. Zwei Stunden und 45 Minuten später fiel der Applaus dann deutlich verhaltener aus. “Kinds of Kindness” kann das Publikum bei Weitem nicht so erobern, wie es Lanthimos zuletzt mit “Poor Things” gelang. Vielmehr lässt Lanthimos weite Teile des Publikums verstört zurück. (Lesen Sie hier: Selena Gomez glänzt in Cannes: So genial ist das Gangster-Musical “Emilia Pérez”)

Willem Dafoe, die tanzende Emma Stone und Yorgos Lanthimos auf dem roten Teppich in Cannes

Samir Hussein/Getty Images

“Kinds of Kindness”, ab 4. Juli 2024 in den deutschen Kinos