Erwin Wurm blickt zum 70. Geburtstag auf sein Lebenswerk zurück und erklärt, warum er seine Kunst im Gegensatz zu vielen Menschen nicht lustig findet.
Erwin Wurm sitzt in seinem Büro in einem Sessel, er trägt eine schwarze glänzende Bomberjacke und schaut etwas angespannt in das Gesicht des GQ-Reporters, als der auf ihn zustürmt. Die Begrüßung ist höflich zurückhaltend. Eben betrachtete der Künstler noch ein paar Skizzen auf dem Couchtisch vor sich. An einem der Schreibtische in dem weitläufigen Büro arbeitet einer seiner Söhne, eine Mitarbeiterin bringt Kaffee und Wasser, die Skizzen müssen weichen.
Wurm ist gerade erst von der Kunstbiennale in Venedig zurückgekehrt und wird an einem der nächsten Tage für eine Ausstellungseröffnung weiter zum Gallery Weekend nach Berlin reisen. Es ist ein großes Jahr für den wohl bekanntesten zeitgenössischen Künstler Österreichs, dessen Werk in der ganzen Welt ausgestellt und gefeiert wird. Im Sommer wird er 70 Jahre alt, aussehen tut er wie Mitte 50. Er ist groß und schlank, schick und wach, mit einer hellen Stimme. Im September zeigt die Albertina der Moderne in Wien eine Retrospektive seines Lebenswerks, in der internationalen Presse wird es dann wieder in vielen Artikeln um das Komische in Wurms Werk gehen. „Ach, Erwin Wurm, ja, der Lustige!“, rief am Morgen eine Frau, als ich ihr beim Frühstück im Hotel erzählte, was mich nach Österreich verschlagen habe. Jetzt aber sitzen Erwin Wurm und ich uns kurz schweigend gegenüber, vielleicht genau eine Sekunde zu lang. Verunsicherung kommt auf. Erwin Wurm ist gar nicht lustig. (Lesen Sie auch: Nan Goldin im Interview: “Meine Generation wurde ausgelöscht”)
Hinter einem riesigen Stahltor öffnet sich das Wurm-Universum
Schon das riesige Stahltor am Eingang zu seinem Anwesen flößt Respekt ein. Man muss auf der anderen Seite der Mauern anrufen, woraufhin sich ein paar Minuten später das Tor wie in einem Stanley-Kubrick-Film öffnet, ganz langsam, fast ohne ein Geräusch. In der Weite des Anwesens fällt der Blick auf die ersten Skulpturen. Wolken ziehen schnell über den Himmel. Die Landschaft rund um das Schloss etwa eine Autostunde außerhalb von Wien, das Wurm vor vielen Jahren gekauft hat, ist diesseits und jenseits der Mauern ländlich, malerisch und wunderschön. Auf einer Wiese steht eine graue Skulptur: ein junger Mann, wie man ihn in einer beliebigen europäischen Innenstadt antreffen kann, in Jeans, Sneakern und einem Hoodie, die Kapuze über den Kopf gezogen. Doch dort, wo der Kopf wäre, klafft ein schwarzes Loch.
„Also“, frage ich an diesem Montagmittag, „wie wollen wir das heute machen? Erst mal übers Gelände gehen oder lieber erst das Interview? Bis wann haben Sie überhaupt Zeit?“ Wurm sagt, um 15:30 Uhr komme sein Trainer. Die leichte Anspannung, die ich bei ihm ausmache, rührt vielleicht daher, dass er im eigenen Reich, im eigenen Werk einem Fremden gegenübersitzt – einem Eindringling, dem Erwin Wurm abermals seine Arbeit und sein Leben erklären muss. Als könnte man das alles nicht einfach in seiner Anfang des Jahres erschienenen, sehr sorgfältig verfassten Künstlerbiografie nachlesen. Doch Wurm erklärt sich und seine Arbeit weiterhin. Nur ob er es gern tut oder sich dazu verpflichtet fühlt, ist noch unklar. (Lesen Sie auch: Der Magnum-Fotograf Thomas Hoepker im großen Porträt: “Ich will ja auch nicht reden. Ich will sehen.”)
Erwin Wurms Werk: Wütende Würstchen und Sigmund Freuds plattgefahrenes Geburtshaus
Wir gehen also übers Grundstück, durch die gigantisch anmutenden Hallen, in denen Wurms Kunst lagert. Regale türmen sich bis unter die Decke, darin Skulpturen, unter anderem zerlaufene Häuser, die an Marshmallows erinnern. „Das hier ist das Geburtshaus von Sigmund Freud“, sagt Wurm. Über ein stark zerdrücktes Exemplar sei er mit einem Reifen gefahren, erzählt er. In einem Regalboden stehen lauter Wurstskulpturen. Eine von ihnen reckt ihre Arme, die ebenfalls aus Würstchen bestehen, empört zum Himmel. In einer anderen Halle stehen in großem Abstand zueinander Skulpturen, die wie zersägte Menschenhüllen aussehen, vom Tageslicht beschienen, das durch die Oberlichter auf sie fällt.
Was hier in den Hallen schlummert, ist nur ein Bruchteil von Wurms lang jährigem Schaffen. Seine Skulpturen, Videos, Installationen und Performances reisen durch Museen, gehören zu Privatsammlungen und locken Publikum in Einzelausstellungen, wie jüngst bei dem global einflussreichen Galeristen Thaddaeus Ropac in London oder im Yorkshire Sculpture Park, ebenfalls in England, wo gleich 100 Arbeiten zu sehen waren. (Lesen Sie auch: Aaron Altaras über jüdische Identität in Deutschland: “Ich hatte Angst vor jüdischen Klischees”)
Erwin Wurms One Minute Sculptures gehen um die Welt
Wurm erzählt, es sei ein ungewöhnlich stiller Tag auf dem Gelände. Sonst führen ständig Lkw vor, um Stücke abzuholen oder zurückzubringen. Und dann gibt es noch die vielen Werke Wurms, die sich kaum transportieren lassen: die One Minute Sculptures. Mit ihnen erlangte er 1997 Bekanntheit über die Kunstwelt hinaus. Es sind Figuren, die die Ausstellungsbesucher:innen selbst herstellen, mit ihren Körpern und mit Alltagsgegenständen wie Kugelschreibern, Stühlen, Plüschtieren oder Plastikeimern.
Während unseres Spaziergangs durch seine Hallen legt Erwin Wurm seinen Kopf seitlich auf eine Skulptur und stellt eine dazugehörige WC-Ente auf die andere Seite seines Kopfes. Ein Lächeln fliegt über sein Gesicht und wird damit Teil dieser Minutenskulptur. Die Red Hot Chili Peppers ließen sich im Jahr 2002 von den One Minute Sculptures zu ihrem Video „Can’t Stop“ inspirieren. Die Arbeiten gehen um die Welt, und immer wieder kommen neue hinzu. Trotz seiner beeindruckenden Ausmaße herrscht in Wurms Atelier die Gemütlichkeit einer Alpenhütte. Fürs Interview setzen wir uns vor einen großen Ofen, in dem friedlich ein Feuer lodert.
Lesen Sie hier das exklusive Interview mit Erwin Wurm
GQ: Herr Wurm, ich habe mir heute Morgen mein Hemd falsch herum angezogen und einen Kaffeebecher auf den Kopf gestellt – mein Versuch einer One Minute Sculpture. Was, glauben Sie, hat das mit mir gemacht?
ERWIN WURM: Ich denke, man entrückt sich aus dem Alltag, und man betrachtet die Dinge daher für einen kurzen Moment differenzierter.
Es hat meine morgendliche Routine durchbrochen, war aber auch ein erhebendes Gefühl. Die Menschen haben es Ihnen zu verdanken, dass sie selbst zu einem Teil der Kunst werden können.
Die One Minute Sculptures funktionieren so gut, weil sie in den alltäglichen Umgang mit Gegenständen eingebettet sind und diese Normalität eben gerade stören. Dadurch verschaffen sie den Leuten Zeit und Raum, kurz anders zu funktionieren. Wenn man in eine Ausstellung geht und eingeladen wird, selbst auf ein Podest zu steigen, wird man vom betrachtenden Subjekt zum betrachteten Objekt. Lässt man diese Minute über sich ergehen, findet etwas statt. Auch ich mache diese Erfahrung immer wieder. Man glaubt es nicht, solange man es nicht probiert hat.
Was empfanden Sie, als Sie begriffen, dass Sie mit diesen Skulpturen ein für Sie ungeheuer ergiebiges Format gefunden hatten? War das Macht? Befreiung?
Zuerst einmal war da Zweifel. Als Künstler zweifele ich immer an allem Neuen. Man hat vielleicht eine neue Tür geöffnet, aber die erste Resonanz in einem selbst ist Zweifel – und das ist ganz wichtig. Das hält die Kritikfähigkeit aufrecht. Gerade bei der eigenen Arbeit ist die Kritikfähigkeit häufig unterentwickelt, weil das Ego dazwischenkommt und schreit: Hier bin ich, ich bin so toll! Dem darf man nicht erliegen. Man muss sich fragen: Ist das jetzt wirklich gut? Wenn ich eine neue Arbeit gemacht habe, schaue ich anschließend zwei Wochen nicht drauf. Ich komme irgendwann wieder, und dann fällt es mir oft wie Schuppen von den Augen. Ich denke mir: Oje, oje, das ist aber nicht so toll. Oder ich denke: okay, weiter beobachten.
Erwin Wurm über Unsicherheiten beim kreativen Schaffen
Der Maler Gerhard Richter sagte einmal, künstlerische Entscheidungen zu treffen sei schlimmer, als krank in der Klinik zu liegen. Das klingt qualvoll.
Diese Qual kommt aus der Unsicherheit. Man weiß nicht, ob das jetzt gut ist oder nicht. Um etwas abzuschließen, muss man das Gefühl haben, es passt mir so, wie es ist. Wie hat der Wittgenstein so schön gesagt? Dein Anzug ist nicht schön, er sitzt. Der Gerhard Richter sagte auch, seine Bilder seien schlauer als er. Das ist eine tolle Bemerkung. Ich konnte lange nichts damit anfangen, aber inzwischen kann ich das bestätigen. Ich meine, wenn ich einen fertigen Plan habe, wie eine Arbeit aussehen soll, und ich diesem Plan streng folge, versperre ich mir die Möglichkeit, mich im Entstehungsprozess von der Arbeit leiten zu lassen. Es ist etwas Großartiges, einem neuen Pfad zu folgen. Das muss man aber erst einmal erfahren, und dann muss man es zulassen.
Das klingt transzendental, ganz so, als würden Sie dabei eine übersinnliche Ebene erreichen.
Na ja, weiß ich nicht. Aber gut, dass wir darüber sprechen und nicht darüber, wie toll mein Leben ist und den ganzen Quatsch. Es gibt viel wesentlichere Fragen. Ist der Umgang, den wir mit uns selbst, mit anderen Menschen und mit der Welt pflegen, ein konsumierender, der nur auf der Oberfläche passiert? Oder geht er tiefer? Ist das überhaupt möglich in einer Zeit, in der alles nur Kapitalismus und Konsum ist? Das ganze Social-Media-Getue ... In den künstlichen Welten, die da aufgebaut werden, kann man sich ja verlieren. Aber die wichtigen und interessanten Dinge passieren woanders. Poesie, Literatur, Musik – das sind Gegenentwürfe zur Welt. Ich glaube, darum sind wir hier. Das ist es, was mich fasziniert und führt und drängt.
Erwin Wurm über seinen Vater und seine Herkunft
Wenn man sich fragt, warum Sie da sind, wo Sie sind, muss ich an Ihr Narrow House denken. Sie haben Ihr Elternhaus deformiert, zusammengestaucht. Darin hängt auch die gestauchte Version eines Fotos, auf dem Ihr Vater mit Ihnen als Säugling auf dem Arm tanzt. Das mag witzig aussehen, aber es ist eigentlich traurig. Es ist beklemmend und trotzdem kraftvoll, es ruft die Beengtheit der Provinz auf.
Absolut. Es ist die Auseinandersetzung mit einer Zeit und ihrer Gesellschaft.
Gleichzeitig erzählt Narrow House aber auch von Liebe und Geborgenheit. Sie vereinen da zwei Gegensätze: eine Enge im Geist und eine Weite im Herzen. Wie haben Sie in sich die Kapazität erschlossen, so etwas als Skulptur zu formulieren? Oder anders: Wie wird man eigentlich Künstler?
Das wird man, indem man nicht strikt einer einzigen Vorstellung von der Welt folgt, sondern offen und flexibel bleibt. Mein Vater war erst Polizist und später Kriminalbeamter. Er war das zu einer Zeit, in der die Gesellschaft noch eine engstirnigere Weltanschauung hatte und entsprechende strenge Vorstellungen von Recht und Ordnung. Er hatte seine Schwierigkeiten damit, dass ich Künstler werden wollte, denn ihm war diese Welt fremd. Doch nach einiger Zeit konnte er meine Entscheidung akzeptieren. Wir führten viele Gespräche und fanden trotz unserer unterschiedlichen Hintergründe einen gemeinsamen Nenner. Ich habe meinen Frieden mit ihm gemacht und er mit mir. Wir haben uns gut verstanden, das hat eine gewisse Akzeptanz für das scheinbar Unakzeptierbare geschaffen. Diese Offenheit und Empfindsamkeit hilft vielleicht dabei, aus sich selbst heraus zu schöpfen.
Haben Sie beim Narrow House Reaktionen des Publikums in Erinnerung, die Sie besonders berührt haben?
Ich habe das Narrow House auch gemacht, um die Nachkriegsgesellschaft zu porträtieren, in der ich aufgewachsen bin. Vergangenes Jahr war es im Tel Aviv Museum of Art in Israel ausgestellt, ein halbes Jahr lang. Da habe ich tolle, sehr positive Reaktionen bekommen. Die Menschen finden sich in der Zerrissenheit zwischen den zwei Strömungen in Israel wieder: zwischen den Erzkonservativen auf der einen Seite und den Andersdenkenden auf der anderen. Ich habe da auch viele One Minutes gemacht, in die ich die aktuellen Themen Israels auf sehr vorsichtige Weise habe einfließen lassen – die Demos gegen Ministerpräsident Netanjahu und seine rechtskonservative Likud-Partei. Das wurde goutiert und auch von der Kunstkritik gelobt. Eine Woche vor Ende der Ausstellung kam es am 7. Oktober zum Überfall der Hamas.
Wie halten Sie die Waage zwischen Sicherheit und Unsicherheit, zwischen Durchlässigkeit und Entschlossenheit?
Ich befinde mich in einem ständigen Kampf mit meiner Arbeit. Ich kann mir nie sicher sein, ob das jetzt gut ist, was ich mache. Mein eigenes Vertrauen hat mir schon oft falsche Tatsachen vorgespielt. Ich weiß, dass ich mir selbst nicht vertrauen kann. Ich kenne Kollegen, die sind sich so sicher in allem, dass ich mich früher immer gefragt habe, woher sie diese Stärke haben. Dann bin ich drauf gekommen, dass diese Stärke eigentlich Schwäche ist.
Ist die Aufregung, die einen Schauspieler vor einem Auftritt zu Bestleistungen treibt, dieselbe Spannung, die Sie beim Kunstmachen empfinden?
Die Spannung ist ganz wichtig, vor jedem neuen Arbeitstag. Am Ende eines Tages bin ich oft euphorisch. Dann komme ich doch tatsächlich zwei Tage später zurück, und mir fällt alles runter, weil die Euphorie beim zweiten Hinschauen nicht bestätigt wird. Ist so. Dann wird halt neu gearbeitet.
Sie haben hier einen wunderbaren Ort mit perfektem Licht und viel Ruhe. Die Gestaltung Ihres Anwesens spiegelt die Region. Ist es nicht gefährlich für einen Künstler, wenn man es so schön hat?
All das, was Sie da beschreiben, hat keine Bedeutung, wenn ich vor der Skulptur stehe, vor dem Ton, vor der Leinwand. Gar nicht. Ob die Arbeiten in einem dreckigen Kammerl passieren oder in einem Palazzo in Venedig, ist vollkommen wurscht. Alles spielt sich zwischen der Skulptur und mir ab. Angenehmes Leben? Ja, klar! Wunderbar. Aber innen schaut’s anders aus. Es ist nicht angenehm, wenn man ständig gequält wird von Ideen und dem Zweifel an ihnen. Wenn der Drang da ist, es aber nicht hinhaut. Verzweiflung, Scheiße. Muss ich jetzt aufhören? Bin ich schon zu alt? Soll ich was anderes machen?
Fällt Ihr Name, reagieren viele mit: Ach, Erwin Wurm, der Lustige! Sie selbst klingen ganz anders.
Das ist eine Vereinfachung der Welt, das passiert überall. Bei abstrakten Künstlern sieht das Publikum erst mal nichts. Bei mir sieht es Autos und Hosen und Taschen und Würste. Jeder glaubt, er oder sie sei sofort dabei. Ich spiele mit dem Paradoxen, mit dem Absurden. Thomas Bernhard, die zweite Generation des absurden Theaters, Wien als absurde Stadt par excellence – das alles hat mich geprägt. Der Barock, der Aktionismus, die melancholische Musik, Sigmund Freud und Ludwig Wittgenstein. Die Voraussetzungen, die man in diesem Land hat, sind schon gewaltig. Darum bin ich auch nie weggegangen. Warten Sie, jetzt habe ich den Faden verloren.
Das Lustige an Ihrem Werk.
Ja, genau. Als ich die Aufnahmeprüfung in die Malerei nicht geschafft hab, haben die mich in die Bildhauerei gesteckt. Unvorstellbar für mich. Frust. Okay, so ist es nun mal. Ich beschäftigte mich also mit der Frage, was Bildhauerei ist. Da kommt man von der Zweidimensionalität zur Dreidimensionalität und dann zu Masse, zu Volumen, Zeit, Oberfläche – die vielen Parameter der Bildhauerei. Unsere Ausbildung war klassisch, wir lernten: Wenn man etwas mit Ton modelliert, fügt man Volumen hinzu oder nimmt Volumen weg. Dann kam ich drauf: Wenn Sie zunehmen oder abnehmen, tun Sie das Gleiche. Sie fügen Volumen hinzu oder nehmen es weg. Also kann man sagen: Zu- und Abnehmen ist Bildhauerei. Das war in den Siebzigern, und damals war es üblich, Vorher-nachher-Bilder von Menschen zu zeigen, die abgenommen hatten. Dann gab es Weight Watchers, und ich dachte: Die reden von Bildhauerei. Das mache ich auch, aber ich drehe es um. Ich mache etwas fett. Was habe ich genommen? Ein Auto, weil es absurd war. Ein fettes Haus, weil es ungewöhnlich war. Ich habe versucht, mich der Bildhauerei über die Alltäglichkeit anzunähern. Und natürlich verstehe ich, dass die Leute lachen, wenn sie ein dickes Auto sehen.
Ihr Humor hat etwas Bissiges.
Ja, absolut!
Das Narrow House ist beklemmend.
Letzten Endes handelt es sich um eine melancholische Weltsicht.
Woher stammt die?
Wenn ich mir unsere Zukunft anschaue, wird mir schlecht. Aber die Welt ist ja nicht nur schlecht. Irgendjemand sagte mal, es gibt immer die Idylle in der Katastrophe und die Katastrophe in der Idylle.
Wie zeigt sich das Melancholische in Ihrem Werk? In der Wärmflasche da hinten zum Beispiel, wie heißt die Skulptur noch mal?
Mutter (lacht). Es gibt auch einen Vater. Das ist ein Doppelliter Wein. Auf zwei Beinen.
Wurm kommt zurück auf das melancholische Wien, und je länger er spricht, desto schnellere Sprünge scheinen seine Gedanken zu vollführen. Es geht um Österreich als sein Steinbruch, um Thomas Bernhards Schimpfen, um Elfriede Jelinek, um 700 Jahre Habsburger. Darum, dass Kaiser Franz Josef Bücher gehasst habe und im Zweiten Weltkrieg nur Marlene Dietrich das Lied „Lili Marleen“ so traurig singen konnte, dass Soldaten, die es hörten, mit dem Schießen aufhörten. Er erzählt von Michelangelo, der seine Skulpturen so stabil baute, dass man sie einen Berg herunterrollen könnte und sie danach immer noch 500 Jahre überdauern würden. Seine One Minutes hingegen seien eine Antwort auf alles Kurzlebige.
Die Tätowierung auf Ihrem Arm lautet aber: One Minute Forever. Für immer heißt mehr als 500 Jahre.
Das habe ich mir zum Sechzigsten draufmachen lassen (lacht). Meine Frau und meine Tochter haben mich sehr gescholten damals, weil ich sie vorher nicht gefragt hatte.
Was kommt zum Siebzigsten hinzu?
Weiß nicht, mir fällt nichts ein.
Man kann sich schwer vorstellen, dass Ihnen nichts mehr einfällt.
Mein lieber Freund Michael Haneke, Sie kennen seine Filme, arbeitet nicht mehr, weil er sagt, zur aktuellen Zeit falle ihm nichts mehr ein. Er hat sich immer gesellschaftskritisch geäußert und ist sprachlos geworden.
Erwin Wurm über Balenciaga und Maison Margiela
Ein leichteres Thema: Was halten Sie eigentlich von Demna Gvasalia und seiner Arbeit für Balenciaga?
Ja, interessant! Mich interessiert immer der bildhauerische Effekt der Mode, die zweite Haut. Aber Balenciaga erinnert mich leider an Kanye West, und den finde ich zutiefst unsympathisch.
Viele Designs von Balenciaga funktionieren genau wie Erwin-Wurm-Kunst über eine absurde Vergrößerung. Die Sneaker ...
Ja, die schicken sie mir immer als Dankeschön für die Inspiration zu. So groß (er bildet die Größe mit Händen nach), aber ich kann die nicht tragen.
Vieles aus Ihrem Werk scheint über die Laufstege von Balenciaga zu geistern.
Da ist Demna Gvasalia aber nicht der Einzige. Das klingt jetzt so angeberisch, aber Martin Margiela – ein Label, das alle lieben – hat mal eine Show gemacht, bei der zwanzig Models so herumgelaufen sind. (Er zeigt auf seinem Smartphone ein Foto, auf dem links eine seiner Skulpturen und rechts ein Model in einem Kleid in nahezu identischer Nachahmung der Skulptur zu sehen ist.) Da wurde mein Name nicht mal erwähnt. Einige Jahre später dann hat mich mal jemand von Margiela angesprochen. Sie würden meine Arbeit so lieben, ob wir nicht mal zusammenarbeiten wollen. Da habe ich gesagt: Das habt ihr doch schon ohne mich gemacht. Das war ihnen dann natürlich peinlich. Das ist mir oft passiert. Aber die Red Hot Chili Peppers waren superkorrekt.
Wenn Sie sagen, dass Zu- und Abnehmen Bildhauerei ist, fallen dann Dinge wie Botox, Filler und perfekte Kieferkonturen auch in den Bereich der skulpturalen Arbeit?
Genau, ja. Ich habe eine Freundin in Wien, die so was alles anbietet, und ich habe ihr gesagt: Bitte, ihr könnt das so nicht machen. Ihr müsst lernen, was es heißt, hier einen Millimeter abzutragen und da etwas aufzutragen. Verändert sich das Gesicht, verändert sich der Charakter. Die Leute schauen grauenhaft aus. Nein, wirklich, Schönheitschirurgen sollten vier Jahre Bildhauerei studieren, bevor man sie auf die Menschen loslässt.
Aber der Wunsch, den eigenen Körper skulptural zu bearbeiten, muss Sie doch faszinieren.
Mit der Schönheitschirurgie ist es ähnlich wie in der Mode. Beides bietet uns die Möglichkeit, uns anders zu fühlen und neu zu erfinden. Wenn ich mit meinem Gesicht unglücklich bin, kann ich mir ein neues machen. Ich selbst wollte immer kräftiger sein, ich kam mir immer zu dünn vor. Die Verlockung, am eigenen Körper zu arbeiten, ist groß. Es ist Teil unserer DNA, uns verbessern zu wollen. Das finde ich nicht verwerflich, nur halt, wie es gemacht wird. Wenn mein Galerist Thaddaeus Ropac mich zu den Salzburger Festspielen einlädt, sehe ich da überall Frauen, die alle die gleiche Nase haben.
Welches Material versetzt Sie in künstlerische Erregung?
In echte Erregung versetzt mich der Bleistift. Wenn ich neue Ideen suche, spiele ich mit dem Bleistift auf Papier. So entwickle ich alles.
Ulf Pape ist Senior Culture Editor bei GQ.
Erwin Wurm. Biografie. Metzger, Rainer, 304 Seiten, Molden Verlag
Erwin Wurm. Die Retrospektive. Albertina modern, Wien ab dem 13. September 2024