Leo Neugebauer ist 2023 erst zum strahlenden, dann zum tragischen Held geworden, als er bei der Leichtathletik-WM im Zehnkampf nach dem ersten Tag und einem überragenden Wettkampf an der Spitze stand – um dann mit zwei schwachen Disziplinen noch aus den Medaillenrängen zu fallen. Nach starken Wettkampfleistungen im ersten Halbjahr 2024 fährt er jetzt aber als einer der großen Favoriten auf die Goldmedaille der Olympischen Spiele nach Paris. Im Interview mit der GQ spricht er darüber, wie ihn Niederlagen stärker machen, wo er seine Stärken und Schwächen sieht – und wie überhaupt ein Training für zehn unterschiedliche Disziplinen aufgebaut sein muss.
GQ: Leo, die Olympischen Spiele in Paris sind die ersten Spiele, an denen du teilnehmen wirst. Bist du schon voll im Olympia-Fieber?
Leo Neugebauer: Ich bin schon seit einer Weile im Olympiafieber, alleine, weil das ganze Jahr auf Olympia ausgerichtet ist. Das Training zielt über das Jahr immer darauf, zum Höhepunkt maximal fit zu sein und das sind eben die Spiele in Paris. Psychisch gehe ich bis dahin aber Schritt für Schritt und Wettkampf für Wettkampf. (Lesen Sie auch: Leroy Sané über seinen Stand bei der deutschen Nationalmannschaft)
Du warst aber schon früh auf einem extrem hohen Niveau, deine 8708 Punkte in deinem ersten Wettkampf der Saison waren die höchste Punktzahl, die jemals ein Zehnkämpfer zu so einem frühen Zeitpunkt in der Saison erzielt hat. Passt das noch zu dem Plan?
(er lacht) Ich bin definitiv nicht übertrainiert. Es lief eigentlich nur mittelmäßig vom Gefühl her. Das Ergebnis freut mich daher umso mehr. Ich hatte einfach keine Disziplin, in der ich mir einen Aussetzer geleistet habe, das war wichtig für die Gesamtpunktzahl. Aber natürlich gibt mir das einige Hoffnung, dass ich mit Blick auf Olympia auf einem guten Weg bin.
Solche Ergebnisse können zwei Auswirkungen haben. Es kann Dir einen Schub geben, weil du weißt, dass du besser in Form bist als alle anderen deiner Konkurrenten. Auf der anderen Seite erhöht es aber natürlich auch den Druck und die Erwartungen für Olympia. Wie versuchst du das auszubalancieren?
Ich glaube, ich gehe damit ganz gut um. Als ich 2023 den deutschen Rekord gebrochen habe, wurden die Erwartungen für die WM in Budapest an mich auch deutlich größer und ich bin dann ja auch mit einem grandiosen ersten Tag gestartet. Als es am zweiten Tag im Hürdenlauf und im Diskuswurf nicht so lief und ich zurückgefallen bin, habe ich glaube ich viel gelernt und Erfahrungen gemacht, die mir jetzt bei Olympia helfen können. (Lesen Sie auch: Amandla Stenberg im GQ Hype Interview über ihre Rolle in “Star Wars: The Acolyte”)
Die WM in Budapest war der Moment, als du in Deutschland so richtig bekannt wurdest. Du bist als Erster in den zweiten Tag gestartet und am Ende nach ein paar schwächeren Disziplinen letztlich Fünfter geworden. Hast du gemerkt, dass sich in der öffentlichen Wahrnehmung von dir damals etwas geändert hat?
Ich habe sehr viel Support bekommen aus vielen Richtungen, von Fans und dem Umfeld, die mir geschrieben haben. Ich weiß das sehr zu schätzen und es gibt mir ein extrem gutes Gefühl zu wissen, dass so viele Menschen hinter mir stehen und mich unterstützen. (Holen Sie sich den GQ-EM-Deal: 2x GQ lesen und 1 Monat RTL+ Max sichern)
War der Wettkampf am Ende eine Enttäuschung für dich persönlich oder bist du im Nachhinein zufrieden, wie alles ausgegangen ist?
Natürlich weiß ich genau, was hätte passieren können und wie groß meine Chance war, eine Medaille zu gewinnen. Aber das Wichtigste ist, dass ich etwas gelernt und Erfahrung gesammelt habe. Ich bin dankbar für diesen Wettbewerb und glaube, dass er mir helfen kann, dieses Jahr noch einen Schritt weiter zu kommen. (Lesen Sie auch: Das sind die stylischsten Fußballer des Kontinents)
Zehnkampf ist eine sehr außergewöhnliche Disziplin, bei der viel von der Tagesform abhängt und bei der ein schlechter Durchgang dich schon den Sieg kosten kann. Wenn du in einen Tag startest, hast du da schon ein Gefühl dafür, wie es laufen wird?
Natürlich geht man mit einem gewissen Gefühl in den Tag. Das hängt aber in erster Linie von den Trainingsleistungen an den Tagen davor ab. Während dem Wettkampf versuche ich, das alles auszublenden und nur von Disziplin zu Disziplin zu denken. Wenn ich das Gefühl bekomme ‘Die Wurfdisziplinen laufen heute nicht so gut’, dann kann mich das den ganzen Wettbewerb kosten, wenn ich das an mich ranlasse.
Du hast ja schon sehr früh mit Zehnkampf angefangen. Wie merkt man, dass man als Sportler Talent für so viele verschiedene Sportarten hat und sich nicht auf eine konzentrieren sollte?
Ich habe ursprünglich mit Fußball angefangen und nebenher Leichtathletik gemacht. Ich war schon immer sehr sportlich, schnell, konnte gut werfen. Am Ende hat es sich ganz natürlich dazu entwickelt, dass ich mich im Mehrkampf ausprobiert habe.
Es können einem aber ja nicht alle zehn Disziplinen von Anfang an gleich gut liegen. Stabhochsprung ist ja nichts, was man einfach mal so ausprobiert und gleich beherrscht. Was waren zu Beginn die, in die du dich erst noch reinarbeiten musstest?
Mir hat geholfen, dass ich als Kind schon sehr competitive war. Ich wollte alles ausprobieren und ich wollte mich in allem mit den Teamkollegen vergleichen. Natürlich ist der Langstreckenlauf bis heute meine schwächste Disziplin, was aber auch mit meiner Größe zusammenhängt. Beim Rest bin ich sehr ausgeglichen.
Wie sieht denn das Training bei einem Zehnkämpfer aus? Natürlich sind Kraft, Ausdauer und Schnellkraft Dinge, die für alle Sportarten wichtig sind, aber gibt es einen Tag, an dem man Diskuswerfen trainiert und einen anderen, an dem Weitsprung dran ist?
Es hängt vieles vom einzelnen Athleten ab. Es gibt Disziplinen, die man häufiger und intensiver trainieren muss, andere, die man eher vernachlässigen kann. Ich versuche, alle Disziplinen mindestens in einer Sitzung pro Woche gezielt zu trainieren, besonders die technischen Disziplinen wie Stabhochsprung oder Diskuswerfen. Idealerweise trainiert man pro Tag zwei Disziplinen.
Also wie im Fitnesstudio, nur dass Montag nicht Leg Day, sondern Weitsprung- und Diskustag ist?
(er lacht) Genau so. Im Endeffekt ist das Ziel, den Körper an die einzelnen Abläufe zu gewöhnen, so dass der Rest muscle memory ist und man das automatisch abspielen kann. Es ist eine Herausforderung, aber sonst könnte ja jeder Zehnkämpfer werden (er lacht).
Speerwurf und die 1.500 Meter sind deine “schwächeren” Disziplinen. Legst du auf die beiden besonderen Wert im Training?
Nein. Natürlich kann ich in den beiden noch mehr rausholen, aber ich kann mich auch in meinen besseren Disziplinen noch verbessern – oder muss mindestens aufpassen, dass ich mich nicht verschlechtere.
Jetzt geht es schnell auf Olympia in Paris zu. Was sind deine Erwartungen an die Spiele?
Bei Olympischen Spielen nur dabei zu sein, war immer schon mein Traum und mein großes Ziel. Deshalb freue ich mich extrem darauf. Gerade auch, weil sie in Paris stattfinden und deshalb meine Familie und viele von meinen Freunden anreisen und zuschauen können. Dass ich aktuell in einer richtig guten Form bin und die Möglichkeit habe, in Paris oben mitzumischen, macht es natürlich nochmal ganz besonders.
Hast du dir für den Wettbewerb etwas Spezielles vorgenommen, eine bestimmte Medaille als Mindestziel?
Ich will die Atmosphäre in Paris genießen und in jedem einzelnen Wettkampf mein Bestes geben. Wenn das für eine Medaille reicht, wäre es natürlich fantastisch. Aber das oberste Ziel ist es, alles zu geben – dann kann ich mit mir selbst zufrieden sein.
Fotos Antonio Chicaia
Foto Assistenz Daniel Adeyinka & Jessica Howard
Styling Jaelyn Valero