Men of the Year

Ludovic de Saint Sernin im GQ-Interview: “Der Eyelet Brief wurde zu einem Symbol für das Schwulsein, Queerness und Sex"

Designer Ludovic de Saint Sernin wurde zu einem Vorbild der sexuellen Befreiung. Seine unerhört sinnliche und intime Mode berührt Männer wie Frauen – losgelöst von Genderfragen.
Modedesinger Ludovic de Saint Sernin im exklusiven Fotoshooting mit GQ
Ludovic de Saint SerninAlfredo Piola

GQ Breakthrough Designer of the Year Ludovic de Saint Sernin im Interview:

Nackte Haut, entblöste Körper. Unverschämt sexy – Elemente der New Yorker S&M-Szene der 70er- und 80er-Jahre in de Saint Sernins Kollektionen. Der Designer erforscht Sex durch Kleidung, die an die Tom-Ford-Gucci Ära erinnert. De Saint Sernins Pendant zu Tom Fords berüchtigtem Gucci-G-String von 1997 ist ein mit Ösen und Schnürung versehener Lederslip, der in verschiedenen Materialien und Mustern wie Leopard und mit funkelnden Strasssteinen besetzt zum Markenzeichen seines Labels LdSS wurde.

De Saint Sernin, in Brüssel geboren, wuchs an der Elfenbeinküste auf. Mit acht Jahren zog er mit seiner Mutter nach Paris. Nach seinem Studium an der École Duperré absolvierte er Praktika bei Dior und Saint Laurent, bei Balmain wurde Olivier Rousteing zu seinem ersten Mentor.

Ludovic de Saint Sernin bringt den Dialog über Queerness und Gender auf den Laufsteg

Seit seiner Debüt-Kollektion 2017 steigerte sich der Hype um de Saint Sernin jede Saison ein wenig mehr und mündete schließlich 2022 in einem Kreativdirektor-Posten bei Ann Demeulemeester – den er bereits wieder verlassen hat. Was de Saint Sernin seit seinen Anfängen machte, gab den Ton an für viele Gespräche, die seitdem über Queerness und Gender auf den Laufstegen geführt werden – vor allem in Bezug auf Menswear.

Der zarte und lustvolle Ansatz seiner Mode ist auf dem Laufsteg und auf der Straße alltäglich geworden. Unvergessen der Handtuch-Rock, die geschlitzten Jeans aus unzähligen Schnüren, die transparenten Bustiers und die Hosen, so tief geschnitten, dass sie fast die Scham entblößen. Und immer wieder Leder mit Ösen und Schnürungen. 2019 wagte sich de Saint Sernin auch an die Womenswear, die mittlerweile fester Bestandteil seiner Kollektionen ist. Das rücken- und pofreie Kleid aus schimmerndem Kristallgewebe, getragen von Dua Lipa, ging viral. Doja Cat, FKA Twigs, Rihanna und Kim Kardashian sind nur ein paar Celebritys auf der Kundenliste des Designers.

Look aus der F/S24 Kollektion

Alfredo Piola

Zum Interview treffen wir uns in Ludovic de Saint Sernins Wahlheimat Paris und sprechen über Selbstfindung, Liebe und Lust.

Ludovic de Saint Sernin im GQ-Interview

GQ: Sie waren als Teenager ein großer Fan von Lindsay Lohan. War sie auch ein Stilvorbild?LUDOVIC DE SAINT SERNIN: Als Teenager war ich von Lindsay besessen. Ich dachte, sie sei das schönste Mädchen der Welt. Sie war damals eine Modeikone und auf allen Chanel-Shows. Ich habe sie sogar mehrmals in Paris bei den Fashion-Partys getroffen. Ich bewunderte ihren Stil und habe sie ständig gezeichnet, ich habe ein ganzes Buch mit Zeichnungen von ihr. Aber ich konnte nicht tragen, was sie trug, weil es Frauenkleidung war. Sie war nicht wirklich androgyn.

War das der Grund, weshalb Sie Modedesigner werden wollten?
Es ist schon komisch. Ich kann mich an keine Zeit in meinem Leben erinnern, in der ich nicht Modedesigner werden wollte. Ich hatte bereits als Kind eine große Leidenschaft für das Zeichnen und die Kunst. Ich bin in Afrika aufgewachsen und habe die Natur um mich herum gezeichnet. Und später habe ich mich in die kleine Meerjungfrau verliebt und ständig Meerjungfrauen gezeichnet. Erst als ich nach Paris zog, hat sich meine Leidenschaft fürs Zeichnen in eine Leidenschaft für Kleidung verwandelt. In Afrika trug ich eine Uniform, um zur Schule zu gehen. Damals dachte ich nicht wirklich darüber nach, was das Tragen von Kleidung über einen selbst aussagt. Das bekam erst in Paris eine Bedeutung.

Look aus der F/S24 Kollektion

Alfredo Piola

Dort mussten Sie keine Schuluniform tragen?
Nein, weil ich auf eine öffentliche Schule gegangen bin. Meine Mutter meinte, du gehst einfach auf die Schule nebenan, dort gab es keine Uniformpflicht, Gott sei Dank. Plötzlich musste ich mir über meine Kleidung Gedanken machen. Ich wuchs im 16. Arrondissement auf, dort sagten die Kleidung und die Marken, die man trug, sehr viel darüber aus, wer man ist und was man für ein Leben führt. Das musste ich sehr schnell entschlüsseln. Ich fand es faszinierend, dass man jeden Tag etwas anderes anziehen konnte. Ich fing an, mir Shows von Saint Laurent und einigen der größten Designer anzusehen. Ich war von den Modenschauen und den Models in den Bann gezogen und habe wie besessen Fashion-TV geschaut.

In seiner Jugend fehlen De Saint Sernin queere Vorbilder

Die heteronormative Kleiderordnung war zu der Zeit noch sehr dominant?
Damals habe ich mich nicht getraut, in ein Geschäft für Damenmode zu gehen. Die Sachen hätten sowieso nicht für einen Mann gepasst. Die Styles waren nicht geschlechtslos oder geschlechtsneutral. Es war also gar nicht möglich, ich hätte wie ein Mann in Frauenkleidern ausgesehen, was ich nicht wollte. Wenn ich in einem Dorf zur Schule gegangen wäre, hätte ich mich damals wahrscheinlich geschämt, ich hätte mich nicht getraut auszubrechen. Zu der Zeit hatte ich keine großen queeren Vorbilder, zu denen ich aufschauen konnte. Sie waren nicht präsent in der Unterhaltungsbranche oder in den Medien. Ich hätte gedacht, dass die Leute reden: Wer zum Teufel ist das? Was macht der da? Heute können Kinder tragen, was sie wollen, unabhängig von ihrem Geschlecht oder ihrer Sexualität. Das ist wirklich cool.

Ich kann mir vorstellen, dass es zu dieser Zeit wichtig war, die richtige Marke zu tragen.
Ja, genau. In der High School und in der Middle School gab es wahrscheinlich so etwas wie Abercrombie & Fitch, Diesel, Adidas, ich weiß nicht, Teenagerkram. Als ich in der Grundschule war, war Fubu super-trendy. Ich hatte eine Au-pair aus Deutschland, die sagte: Das ist jetzt die coolste High-Street-Marke. Und sie schenkte mir einen Pullover von Fubu. Das war wirklich lustig. Daran habe ich seit 100 Jahren nicht mehr gedacht.

Hat Ihre Mutter Sie von Anfang an in Ihrer Idee unterstützt?
Als ich 17 war und die High School abgeschlossen hatte, wurde meine Mutter so etwas wie meine Kris Jenner. Sie sagte: „Wenn du das machen willst, dann lass es uns versuchen. Ich werde die beste Schule für dich finden, die beste Ausbildung.“ Sie hat mir geholfen, Bewerbungen für meine Praktika zu schreiben und an die Orte zu gelangen, an die ich wollte. Sie hat mich immer sehr unterstützt, auch als ich meine Marke gründete. Sie ist eine sehr stolze Mami.

Seine Liebe zur Mode entsteht aus einer Teenager-Fantasie

Mit Ihrer ersten Kollektion haben Sie den Ton für viele Gespräche über Queerness und Gender angegeben. Das wurde oft kontrovers diskutiert. Glauben Sie, dass die Männer damals noch nicht bereit waren, dass sie Angst vor dieser Art von Hedonismus oder Erotik hatten?
Als ich anfing, meine eigene Kollektion zu entwerfen, wurde mir klar, dass ich meine Fantasien als Teenager ausleben kann, der dieses Hollywood-Mädchen bewundert und sich wie sie kleiden wollte. Ich tue es heute auf eine Art und Weise, indem ich den Körper eines Mannes oder einer Frau etwas fließender sehe. Wenn ich ein Kerl bin und dies tragen möchte, kann ich das, ohne lächerlich darin auszusehen. Ich wollte etwas schaffen, das in der Menswear ernst genommen wird, aber viel gewagter und total befreiend ist. Ich wollte das bestehende System herausfordern, einen Raum schaffen, in dem es einfach nur ein Kleidungsstück ist, egal ob du ein Mädchen oder ein Junge bist. Das ist das Einzige, was zählt. Räume, in denen Menschen sich wohlfühlen und sich ausdrücken können.

Bevor Sie Ihre eigene Marke gegründet haben, waren Sie bei Dior und Balmain.
Mein erstes Praktikum war bei Dior. Während der High School, in der Juwelierabteilung. Das war meine Initiation. Ich war 15. Später auf der Modeschule habe ich ein Praktikum bei Saint Laurent gemacht. Ich habe mit einer Menge cooler Leute zusammengearbeitet und gelernt, wie man eine Marke und deren Identität aufbaut. Nach meinem Studium ging ich zu Balmain, zunächst für ein einjähriges Praktikum. Später war ich als Designer für Textilien und Verzierungen zuständig, was sehr interessant war, weil man buchstäblich bei null anfangen musste. Es war sehr handwerklich, in einer Saison stellten wir höchstens zehn Looks für die Couture-Shows her, von denen wir wahrscheinlich fünf Looks verkauften. Es war schön, so ein traditionelles Pariser Modehaus kennenzulernen.

Look aus der F/S24 Kollektion

Alfredo Piola

LdSS wird zum Spiegel seiner selbst

Was hat Sie dazu bewegt, Ihr eigenes Label zu gründen?
Mit mehr Klarheit über meine Identität hatte ich das Gefühl, dass ich – obwohl Balmain ein großartiger Ort und Olivier ein unglaublicher Mensch war – etwas anderes für mich ausdrücken wollte. Deshalb habe ich versucht, mein eigenes Ding zu machen.

Hatten Sie am Anfang Schwierigkeiten, gab es eine Menge Einschränkungen?
Wissen Sie, ich habe mir eine tolle Dokumentation über Azzedine Alaïa angeschaut, in der er erzählt, wie er mit nichts angefangen hat. Ich hatte kein Geld von der Familie oder viele Ersparnisse. Ich wusste, dass ich etwas machen wollte, aber ich wusste nicht, was. Also habe ich bei Balmain gekündigt. Zu dem Zeitpunkt wusste ich nicht, dass ich eine Marke gründen würde. Als ich bei meiner Mutter auszog, dachte ich: „Oh, ich sollte wahrscheinlich an meiner Mappe arbeiten, so ein klassisches Designer-Ding Headhuntern oder Design-Häusern gehen.“

Wie hat sich dann die Idee, etwas Eigenes zu machen, geformt?
Ich wusste erst nicht, dass es eine Kollektion werden würde. Ich hatte eine Nähmaschine zu Hause und ging nach Japan, um Stoffe zu kaufen, fing an zu nähen, und ich machte ein paar Muster. Ich war mit Feuereifer dabei, am Ende hatte ich zehn Looks, und die Men’s Fashion Week stand vor der Tür. Ich dachte mir: „Warum versuche ich nicht, etwas zu zeigen?“ Also stellte ich mit den Beziehungen, die ich über die Jahre aufgebaut hatte, ein kreatives Team mit Hair, Make-up und Stylisten zusammen. Wir zeigten eine Präsentation mit zehn Models und zehn Looks. Die Presse kam, und es war erstaunlich, wie die Leute darauf reagierten.

Ihre erste Kollektion hatte einen stark autobiografischen Ansatz.
Mein Debüt war eine Art Coming-of-Age-Kollektion, bei der ich mich geoutet habe. Ich entschied, dass alle meine folgenden Kollektionen autobiografisch sein sollten. Ich würde meine Geschichte erzählen, weil ich das Gefühl hatte, dass das etwas war, mit dem sich die Leute identifizieren konnten. An der Modeschule wurde gelehrt, eine Geschichte mit einem Thema zu erzählen. Das hieß dann: Oh, wir machen eine Schneeoder eine Discokollektion. Ich wollte mit dieser Vorstellung von Mode brechen und etwas Persönliches machen. Das war der Wendepunkt, Mode wurde zu der Zeit noch nicht so gesehen. Ich wollte etwas kreieren, das schwul und queer ist, das einen sichtbaren Einfluss hat, das relevant ist, eine wirklich starke Botschaft hat. Und damit ein Zeichen in der Branche setzen.

Schmuck in Zusammenarbeit mit dem New Yorker Künstler Villarreal Vagujhelyi

Alfredo Piola

Einflüsse japanischer Kultur und Designer wie Issey Miyake

Auf Ihrem Instagram-Account entdeckte ich Ihre anfängliche Liebe für Grunge, Kurt Cobain, Boyd Holbrook mit seinen rosa Haaren. Im Laufe der Jahre wurde Ihre Ästhetik glamouröser und ausgefeilter, ganz ähnlich wie in Ihren Kollektionen. Was hat diesen Wandel bewirkt?
In meinem Privatleben stand ich damals mehr auf Issey Miyake, ich bin viel nach Japan gereist. Zugleich entdeckte ich Anspielungen auf die Queer-Kultur in Kunst und Mode, die mich faszinierten. Meine ersten Kollektionen waren zurückhaltend, zeitlos und handwerklich. Später, mit der Einführung der Womenswear, wurden sie dann glamouröser. Als Designer kann man viele Facetten zeigen. Die Vielseitigkeit, die jeder Mensch hat. An einem Tag glamourös zu sein und am anderen eher entspannt – manchmal trage ich auch nur ein T-Shirt. Man kann mich nicht in eine Schublade stecken, ich versuche, die Leute auf Trab zu halten und sie zu überraschen.

Mode als eine Art Selbstreflexion?
Genau. Meine Mode ist immer auch eine Reflexion dessen, was ich gerade durchmache, oder der Leute, die mich umgeben. Mit der Marke aufzuwachsen und diese Geschichte zu erzählen. Man erschafft Dinge, und dann reagieren die Menschen darauf, und dann kommt es zu dieser Konversation, und sie werden ein Teil davon. Vielleicht bist du mit Dua Lipa befreundet, und dann denkst du: „Oh mein Gott, ich muss diesen Look für sie machen. Sie wird es lieben.“ Es wird also ein Teil deiner Welt, das macht es so spannend.

Ihre letzte Kollektion hieß „Lust“. Was steckt dahinter?
Ich hatte ein Kapitel in meinem Leben abgeschlossen. Diese Kollektion ist eine Art Evolution meiner Debüt-Kollektion von 2017 bis heute. Ich wollte zu etwas zurückkehren, zu dem Wesentlichen, mit dem ich angefangen habe: einer Kollektion über Lust. Die Geschichte handelt von einem Jungen und einem Mädchen, die einen Sommerurlaub in Südfrankreich erleben, in Saint-Paul-de-Vence. Mein idealer Schauplatz war das „Colombe d’Or“, ein fantastisches Hotel mit Sanddünen. Eine Geschichte über eine Liebe, wie man sie im Sommer erlebt. Eine Art Fantasie, die man im Urlaub hat, wenn man sich langweilt und geil ist. Es geht um diese Spannung zwischen zwei Menschen. Was wäre vielleicht passiert? Wie zum Beispiel in Filmen wie „Jung & Schön“, „Call Me by Your Name“, „Stranger by the Lake“. Es waren all diese Referenzen, die ich liebe, und ich wollte eine Garderobe entwerfen. Als wäre ich ein Kostümbildner für einen Film, der dort spielt.

Mode als eine Art sexuelle Befreiung

Sie sagten vorhin, Sie wollen, dass die Dinge, die Sie schaffen, persönlich sind. Woran erinnern Sie sich aus Ihrer Vergangenheit? Wie hat das Ihre Arbeit beeinflusst?
Was ich am liebsten ausdrücken möchte, ist die Freiheit, man selbst zu sein. Ich bin in einem sehr heteronormativen Umfeld im 16. Arrondissement in Paris aufgewachsen, behütet vor äußeren Einflüssen. Ich war ein guter Junge, sehr ruhig, brav und ernsthaft und lernte fleißig. Ich hatte nie eine Krise in der Pubertät. Als ich dann auf die Modeschule ging, entdeckte ich, dass Mode so befreiend sein kann, dass man sich selbst entdecken kann, sich die Haare rosa färben und die Augenbrauen grün, was immer man will. Wenn ich eine Kollektion entwerfe, möchte ich, dass der Look den Leuten genau dieses Gefühl gibt – völlig frei von Konventionen zu sein. Denn das wird jemandem die Kraft geben, aus sich herauszugehen. Meine größte Genugtuung nach einer Show ist immer, wenn ich DMs von Fans und Leuten aus meiner Community bekomme, die sagen: „Oh mein Gott, ich habe das gesehen, und es hat mein Leben verändert.“ Es ist wirklich rührend, es ist unglaublich, wenn man das Leben von Menschen beeinflusst, die man gar nicht kennt. Das ist eine meiner Lieblingsbeschäftigungen.

Der Eyelet Brief in Leder aus der F/LooS24 Kollektion

Alfredo Piola

Sie zeigen eine neue männliche Ästhetik. Eines der erfolgreichsten Stücke Ihrer Kollektion ist ein Lederslip mit Ösen und Schnürung, eine Art Symbol für die sexuelle Befreiung des Mannes?
Es war mir nicht bewusst, als ich den „Eyelet Brief“ entworfen habe, dass er so ein Erfolg werden würde. Ich war damals erst zu schüchtern, ihn in schwarzem Leder zu zeigen. Also habe ich ihn in babyblauem Jeansstoff auf dem Runway gebracht. Erst sechs Jahre später habe ich den Slip in seiner ursprünglichen Form in simple black leather gezeigt. Er wurde zu meinem Markenzeichen, wie das ikonische BH-Bustier von Jean-Paul Gaultier. Wenn Jungs bisher sexualisiert wurden, dann als heißer Typ in einer Werbung für eine Schuhmarke oder was weiß ich. Es war wichtig, dieses Thema zu forcieren, etwas zu zeigen, das die Männer in ihrer Intimität ermächtigt, etwas, das sie nicht nur unter ihrer Kleidung tragen wollen, sondern auch ganz offen. Zum Beispiel im Club oder in der Öffentlichkeit, wie zur Pride. Der „Eyelet Brief“ wurde zu einem Symbol für das Schwulsein, die Queerness, den Sex und die Sinnlichkeit für Männer.

Glauben Sie, dass wir an dem Punkt sind, wo wir Hyper-Männlichkeit und -Feminität überwunden haben?
Ich glaube, wir spielen heute viel mehr mit diesen Konzepten, es sollte nicht so streng sein. Ich versuche, in meiner Arbeit genau dieses Fluide, diese Leichtigkeit zu zeigen. Mit Versionen von sich selbst zu spielen, denn wir alle haben in gewisser Weise männliche und weibliche Anteile in uns. Ich denke, es ist interessant zu zeigen, dass es völlig in Ordnung ist, so zu sein, und einfach Spaß daran zu haben.

Transrechten und dem Kampf dafür eine Stimme geben

Hat sich die Gesellschaft wirklich verändert?
Ich glaube schon. Aber ich lebe in einer Blase. Die Wahrheit ist, dass es nicht überall so ist, wenn man mit Leuten konfrontiert wird, die es nicht gewohnt sind, Leute wie mich oder die meine Kleidung tragen zu sehen, die schwul, queer, trans oder was auch immer sind. Meine wichtigste Botschaft ist, meine Arbeit so sichtbar wie möglich zu machen, damit wir uns sicher fühlen können, überall auf der Welt. Und das wird sich in ein paar Jahren nicht ändern. Wir haben noch eine Menge Arbeit vor uns. In einer Zeit, in der die Rechte von Transsexuellen in Amerika auf so sichtbare und gewalttätige Weise infrage gestellt werden, ist es wichtig zu zeigen, dass ich queer bin, dass ich sichtbar bin, dass ich trans bin. Wir müssen all diese unglaublichen Menschen zeigen, die Teil unserer Gemeinschaft sind. Je mehr die Leute mit ihnen konfrontiert werden, desto mehr werden sie es akzeptieren.

Wurden Sie jemals offen mit Diskriminierung konfrontiert?
Hundert Prozent. Ja. Hier in Paris geht es mir gut. Aber wenn ich, wie vor ein paar Monaten, auf ein Festival in Brüssel gehe und einen Rock und Stiefel trage, dann ernte ich Blicke. Selbst dort, obwohl die Stadt so nah an Paris liegt, wird man manchmal schräg angeschaut. Es könnte überall auf der Welt so sein. Ich habe das auch online erlebt. Zum Beispiel auf Instagram. Meistens sind die Leute innerhalb meiner Community super unterstützend. Aber manchmal, wenn ein Post von einem Look oder einem Video viral geht, dann berührst du eine Person außerhalb der Community-Blase, und dann bekommst du es mit Homophobie, Transphobie, all diesen Dingen, zu tun. Es ist verrückt, weil du denkst: „Oh mein Gott, ich habe es so weit gebracht und werde immer noch mit damit konfrontiert.“ Wahrscheinlich werde ich das für den Rest meines Lebens. Aber ich gebe nicht auf.

Wie ist das mit den LGBTQ-Rechten und der Modebranche? Fühlen Sie sich gehört?
Ich glaube schon. Die Sache ist die: Die Wahrheit ist nicht überall und nicht immer zu finden. Ich mache das aus Überzeugung: Ich möchte Sensibilität erzeugen, so laut wie möglich. Aber manch einer in der Branche benutzt LGBTQ als Marketinginstrument. Es gibt immer noch einige archaische Menschen und Denkweisen, die erschreckend sind. Es ist wichtig, dass die neue Generation für sich selbst einsteht und diese Leute aufklärt. Allein dadurch, dass wir sichtbar sind, können wir etwas verändern, hoffentlich.

In Ihrer Show war das Buch „Just Kids“ in einer Ihrer Taschen zu sehen. Was ist die Geschichte dahinter?
„Just Kids“ ist ein Buch, das ich mit Anfang 20 gelesen habe. Damals habe ich angefangen, meine Sexualität infrage zu stellen. In meiner Familie und unter meinen Freunden war niemand schwul oder queer. Ich war der Hetero-Junge, der sich mit Mode beschäftigt. Es gab da diese Spekulationen an der Modeschule über die Hetero-Jungs. Wer wird ihn bekommen? Das Mädchen oder der Junge? Das war sehr lustig. Als ich „Just Kids“ gelesen habe, hat das mein Leben verändert. Das Buch erzählt die Geschichte von Robert Mapplethorpe und Patti Smith, die sich ineinander verliebten und ein Paar wurden. Dann stellte sich heraus, dass er eigentlich schwul war. Die Geschichte ist stellvertretend dafür zu definieren, wer man ist, die Identität als Künstler, die als Mensch. Und seine Sexualität zu entdecken. Das hat meine Welt auf den Kopf gestellt. Ich hatte noch nie ein Vorbild, das heterosexuell war und dann schwul wurde, das geliebt und unterstützt wurde und das in seiner Kunst so stark zum Ausdruck brachte. Ich dachte: „Oh, damit kann ich mich identifizieren.“ Es ist ein sehr wichtiges Buch für mich.

Look aus der F/S 24 Kollektion

Alfredo Piola

Die Konsequenzen aus der Zeit bei Ann Demeulemeester

2022 wurden Sie Kreativdirektor bei Ann Demeulemeester. Das fühlte sich wirklich wie der perfekte nächste Schritt in Ihrer Karriere an. Was war Ihre Motivation?
Es war eine unglaubliche Herausforderung, die Marke ist so voller Geschichte und unglaublicher Referenzen. Ich fand, dass wir in der Art und Weise, wie wir an Mode herangingen, viel gemeinsam hatten. Bei Anns Marke ging es vor allem darum, eine persönliche Erfahrung mit Mode zu machen, eine eigene Geschichte zu erzählen, etwas Einzigartiges zu kreieren und eine Gemeinschaft und eine Nische zu schaffen, die nur für einen selbst da ist. Es war eine super-coole Mischung, bei der wir gemeinsam etwas geschaffen haben. Ich habe diese Kollektion sehr gerne gemacht, und die Wirkung, die sie hatte, hat mir sehr gefallen.

Es gibt eine Menge Druck, wenn man so einen Job anfängt. Sicher waren die Erwartungen sehr hoch. Wie sehen Sie das jetzt, mit etwas Abstand dazu?
Vor dem Launch der ersten Kollektion haben wir bewusst keine Interviews gegeben und nichts von dem Entstehungsprozess preisgegeben. Ich hatte eine starke Verbindung zu Ann und der Marke, die mir die Zuversicht gab, dass ich das schaffen könnte. Ich hatte ein großartiges Team, habe mit Olivier Rizzo gearbeitet, einem der besten Stylisten der Welt. Er kannte Ann sehr gut. Ich habe nicht wirklich darüber nachgedacht, was die Außenwelt denken könnte, bevor sie die Looks auf dem Laufsteg zu sehen bekommt.

Hunter Schafer trug dieses unglaubliche Kleid aus Ihrer ersten Kollektion für Demeulemeester zur Vanity Fair Party bei den Oscars.
Der Look ging viral und wurde zu einem kulturellen Moment. Das war stark. Das hat mich sehr gefreut. Aber ich habe mir keinen Erfolgsdruck auferlegt, wenn es überhaupt Druck gab, dann eher im Sinne von Motivation. Es war so klar in meinem Kopf, was ich machen wollte. Wenn ich Zweifel daran gehabt hätte, hätte ich gedacht: „Oh mein Gott, was werden die Leute denken?“ Aber ich dachte nur: „Ich liebe es. Das wird großartig.“

Ich habe kürzlich mit einer anderen Designerin gesprochen. Sie war für eine große Marke im Gespräch. Sie sagte am Ende, wissen Sie, ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich das machen will, weil ich mit meiner eigenen Marke irgendwie freier bin. Was, würden Sie sagen, war das Wichtigste, was Sie aus der Zeit mit Ann gelernt haben?
Die größte Erkenntnis war, dass es nur dann funktioniert, wenn man genau das richtige Umfeld um sich herum hat und alle hinter dem stehen, woran man selbst glaubt. Man sollte sich so ausdrücken, wie man ist. Man muss so stark sein, wie man nur kann, und sich selbst treu sein. Ich denke, dass die Person, die mich für einen Job einstellt, weiß, wer ich bin und was ich tue. Dass sie hinter mir steht und an mich glaubt, das ist alles, was man sich erhoffen kann. Es ist wichtig, einen Menschen zu finden, der so mutig ist wie man selbst. Denn es ist eine Partnerschaft, und man wächst gemeinsam.

Jetzt haben Sie mehr Zeit, sich auf Ihr eigenes Label zu konzentrieren. Was sind Ihre Zukunftspläne?
Ich werde mich intensiv um dieses Baby kümmern, das ich geschaffen habe, das sehr schnell heranwächst. Wir haben die Marke auf eine Weise aufgebaut, die strukturiert und autonom ist. Ich bin nicht mehr so sehr nur auf mich alleine gestellt wie am Anfang. Jetzt bin ich glücklicherweise in einer Position, in der ich viel mehr Zeit habe, mich auf meine Kreativität zu konzentrieren. Ich habe ein unglaubliches Team an meiner Seite. Mit diesem Team kann ich die Welt erobern und die Leute weiterhin mit Fantasien und Schönheit füttern.

Manuela Hainz ist Style Editor bei GQ.

FOTOS VON ALFREDO PIOLA