Marina Abramović im Gespräch mit GQ.
Hinweg tauchte ich in Marina Abramovićs Welt ein: Ich sah Videos ihrer Performances, Interviews und Dokumentationen, las ihre Biografie und zahlreiche andere Publikationen, um die Tiefe ihres über fünfzigjährigen Schaffens zu verstehen. Diese intensive Beschäftigung mit ihrem Werk war bereichernd. Dabei entdeckte ich auch interessante andere Künstler, die sie großzügig in den Vordergrund rückt. Ich lernte Neues über mich selbst und nahm jene Position des Publikums ein, die Abramovic für ihre Betrachter vorsah.
Die 1946 in Belgrad geborene Performance-Künstlerin deklariert schlagfertig und pointiert, ihr osteuropäischer Akzent wird Teil der charismatischen Gesprächsinszenierung. Es schwingt mehr Gefühl mit, wenn sie vom Aufwachsen im damaligen Jugoslawien, von täglichen Kirchenbesuchen mit ihrer serbisch-orthodoxen Großmutter spricht, als wenn es um die Eltern geht, die kommunistische Helden im Zweiten Weltkrieg waren; der Vater, eine einflussreiche Persönlichkeit mit engen Verbindungen zu Tito, und ihre Mutter, eine hohe Offizierin, dann Direktorin des Museums der Revolution in Belgrad. Beide hart und lieblos im Umgang, aber bereit, Marinas Begabung für Malerei zu fördern. Der Lehrer zeigte ihr erst, wie man mit Ölfarben und Leinwänden umgeht, und dann, wie man sie anzündet und zerfetzt. Für Abramović war das der Beginn, die Grenzen dessen auszuloten, was Kunst sein kann, und sich als Schöpferin und Geschöpf selbst zum Kunstwerk zu machen. (Lesen Sie auch: Gael García Bernal im Interview über seine Karriere: “Ich spiele eine andere Person, um ich selbst sein zu können”)
Marina Abramović beweist wie tiefgreifend Performance-Kunst sein kann
In ihren Anfangsjahren ging es Abramović darum, die physische und emotionale Belastbarkeit zu testen. Mitte der 1970er begab sie sich in Stücken wie „Rhythm 0“ in Lebensgefahr, da sie den Galeriebesuchern erlaubte, mit 72 Objekten – darunter eine Rose, eine Rasierklinge und eine geladene Pistole – nach eigenem Ermessen mit ihr zu interagieren. Diese Kunstversion des „Stanford Prison Experiment“ endete mit Verletzungen und spiegelte die rohen und oft beunruhigenden Wahrheiten der menschlichen Existenz.
Kurz darauf lernte sie den deutschen Künstler Ulay kennen, für den sie nach Amsterdam zog. In den zwölf Jahren ihrer intensiven Beziehung erforschten sie die Dualitäten des Zusammenseins: männlich und weiblich, passiv und aktiv, geben und nehmen. Ein Höhepunkt war „Rest Energy“, eine Performance, die Vertrauen und Verletzlichkeit auf den Punkt brachte: Abramović hielt einen gespannten Bogen, während Ulay den Pfeil direkt auf ihr Herz zielte. Mitte der Achtziger drifteten ihre Ambitionen auseinander. Abramovićs einzigartige Ausdauer, lange Aufführungen durchzuhalten, wegweisende Projekte zu realisieren und eine relevante Position in der Kunstwelt einnehmen zu wollen, führten zur Trennung der beiden. Für die 736-stündige Performance „The Artist Is Present“ im MoMA in New York trainierte sie ein Jahr lang, um den Besuchern täglich acht bis zehn Stunden lang ununterbrochene Aufmerksamkeit schenken zu können, ohne dabei zu trinken oder die Toilette aufzusuchen.
Um die Verbindung von Körper, Zeit, Ausdauer und Präsenz zu erforschen und zu zeigen, wie Performance flüchtig, aber auch tiefgreifend und unvergänglich sein kann, hat sie mit dem Marina Abramović Institut (MAI) eine Plattform für die nächste Generation von Künstlern geschaffen. Sie ist die erste Frau, der die Londoner Royal Academy eine monumentale Ausstellung gewidmet hat. Beim GQ-Shoot im Bethnal Green Working Men’s Club übernahm sie die Inszenierung, warmherzig und unterhaltsam, ein Traumgast für eine Dinnerparty. Es ist schwer vorstellbar, dass sie bei der „GQ Men of the Year“-Party bereits ihren 77. Geburtstag feierte und ihre Beerdigung mit drei Särgen in drei ihrer wichtigsten Städte – Belgrad, Amsterdam und New York – geplant hatte. In welchem Sarg sie tatsächlich beigesetzt wird, soll ihr Geheimnis bleiben.
Marina Abramović im Interview
GQ: Ich habe gerade das kleine Buch “Psychoanalyst meets Marina Abramović” gelesen, in dem Sie analysieren lassen, was Sie mit Ihrem Werk aussagen und warum bedeutende Beziehungen geendet sind. Was beschäftigt Sie im Moment?
Marina Abramović: Oh, es ist lustig, dass Sie dieses Buch erwähnen. Ich habe einen neuen Partner, und er ist froh, nicht darin vorzukommen! Aktuell führe ich ein Doppelleben hier in London. Ich habe die umfangreichste Ausstellung meiner Karriere in der Royal Academy eröffnet. Wir zeigen Re-Performances, Multimedia-Installationen und einige neue Werke. Die Resonanz beim Publikum ist enorm. Wenn ich im Museum bin, fühle ich mich wie in einer Raumkapsel, da ich dieses Projekt seit sieben Jahren verfolge. Parallel habe ich mein normales Leben nach London verlegt. Ich bin schon im August per Schiff aus New York angereist, da Fliegen nicht möglich war. Zu Beginn dieses Jahres lag ich wochenlang mit einer Lungenembolie im Krankenhaus und wusste nicht, ob ich es überleben würde.
Sie sehen aus, als hätten Sie sich völlig erholt. Wie fühlt es sich an, durch Ihr eigenes Universum in der Royal Academy zu gehen? Nehmen Sie da manchmal die Perspektive des Publikums ein?
Ein großer Traum ist in Erfüllung gegangen, um meine Arbeiten unabhängig von mir selbst in der Welt zu sehen. Es ist, als wäre man in einem Flugzeug, würde es fliegen und gleichzeitig aus dem All verfolgen, wie es abhebt und in den Himmel steigt. Das Zuschauen berührt mich zutiefst. Ich habe diese intensiven Performances selbst durchlebt, nun kann ich sie aus einer anderen Perspektive betrachten. Kürzlich endete „The House With The Ocean View“. In dieser zwölftägigen Performance lebte die Künstlerin in drei offenen Räumen, trinkt nur Wasser, isst nicht, und alles ist für das Publikum sichtbar – Schlafen, Duschen und Toilettenbesuche. Kein Sprechen, kein Lesen, nur Präsenz. Es war beeindruckend. Viele Besucher kamen täglich zurück. Am Ende war der Raum mit Hunderten gefüllt, die in der Stille auf den Abschluss warteten. (Auch interessant: Franz Rogowski im Interview über die Kunst, Intimität auf die Leinwand zu bringen und seinen neuen Kinofilm "Passages")
Wo Kunst und Performance aufeinandertreffen
Wie finden Sie die richtigen Künstler?
Einige kenne ich bereits aus früheren Projekten, andere überzeugten in Auditions, in denen sie 15 Minuten einfach stehen sollten, ohne etwas zu tun. Können sie den Raum allein mit ihrer Präsenz füllen? Bleiben sie fokussiert oder schweifen die Gedanken ab? Denn wenn du in diesem Moment an irgendetwas denkst und eine andere Person vor dir hast, bist du hinter dem Vorhang des Denkens. Es gibt keine Verbindung. Ein Künstler muss die Stille verstehen und in seinem Werk Raum für die Stille schaffen. Die Stille ist wie eine Insel inmitten eines aufgewühlten Meeres. Kann die Person lange Phasen der Einsamkeit auf sich nehmen? Es ist ähnlich wie die Suche nach einem Pianisten, der Bach oder Beethoven meisterhaft spielt. Aber es geht nicht nur um Wiederaufführungen: Im Oktober organisierten wir eine Show in der Queen Elizabeth Hall, bei der elf Künstler aus neun Ländern ihre eigenen Werke zeigten. Kunst studieren viele, aber nur wenige verschreiben sich mit Leib und Seele, und noch seltener sind sie herausragend. Ich muss darauf vertrauen können, dass die Person ihre eigene Interpretation charismatisch umsetzt und konsequent bleibt. Die besten Performance-Künstler sind auf der Suche nach einer transformativen Erfahrung. Sie stärkt sie in Stücken, die über Tage gehen.
Die Re-Performances gehören zu Ihren ruhigeren Arbeiten. Zu Beginn Ihrer Karriere setzten Sie mehr als einmal Ihr Leben für die Kunst aufs Spiel. Was haben Sie durch Verletzungen und lebensgefährliche Installationen gelernt?
Wenn man sich mit dem Tod auseinandersetzt und sich körperlichen Schmerzen ausliefert, trainiert man, diese Art von Leiden zu kontrollieren. Emotionales Trauma ist viel schwerer zu überwinden. Gefühle zu meistern erfordert mehr Übung, geistige Stärke und bleibt oft eine lebenslange Herausforderung. Wenn man leer ist und man sich von allem Schmerz befreit hat, kommt man in einen Bewusstseinszustand, in dem man vollkommen anwesend ist. Es gibt keine Zukunft, keine Vergangenheit, nur die Gegenwart. Wir machen uns nicht klar, wie maßgeblich unsere seelische Verfassung unser Leben beeinflusst. Der Geist kann sowohl Freund als auch Feind sein und alle möglichen Zustände hervorrufen: Er macht uns glücklich, krank, verliebt, eifersüchtig, hasserfüllt, bitter, gewalttätig, motiviert oder inspiriert. (Passend dazu: Mental Health: Die 5 besten Apps für die mentale Gesundheit)
Abramovićs künstlerische Bereitschaft für Schmerz
Ihre Psychoanalytikerin bemerkte, Sie würden Ihren Partnern zu schnell vergeben, ohne deren Entschuldigung abzuwarten. Bedeutet zu verzeihen nicht immer etwas Positives?
Natürlich ist es sehr befreiend, negative Energie loszulassen. Doch oft habe ich Männer, die untreu waren, zu bereitwillig entschuldigt und selbst die gesamte Verantwortung übernommen. Ulay und ich hatten 20 Jahre keinen Kontakt; dann verklagte er mich. Zwei Jahre vor seinem Tod fanden wir zu einem ehrlichen Gespräch und zu echter Versöhnung. Ich fühlte mich zutiefst erleichtert und glücklich.
Für Ihre Performance „The Lovers: The Great Wall Walk“ von 1988 sind Sie und Ulay 2.500 Kilometer entlang der Chinesischen Mauer aufeinander zugegangen, nur um sich am Ende zu trennen. Wenn man bedenkt, dass es acht Jahre dauerte, die Genehmigung von China zu erhalten, muss die Idee in einer glücklicheren Phase entstanden sein. Wie sah das ursprüngliche Konzept aus?
Aufeinander zuzugehen und zu heiraten. Es tat sehr, sehr weh, drei Monate lang zu laufen, um sich von einer so großen Liebe zu verabschieden. Aber selbst in diesen schwierigen Zeiten waren wir entschlossen, das Kunstwerk zu vollenden, ungeachtet des erwarteten Schmerzes.
Ihre künstlerische Bereitschaft für Schmerz wurde als masochistisch fehlgedeutet. Der Verschwörungstheoretiker Alex Jones setzte vor einigen Jahren das Gerücht in die Welt, Sie seien eine Satanistin. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht, als Sie Ziel falscher Anschuldigungen wurden?
Es ging um mein Kunstwerk „Spirit Cooking“, aber auch „Balkan Baroque“, für das ich auf der Biennale von Venedig 1997 mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde. Es ist beängstigend, wenn man in diese wahngesteuerte Spirale hineingezogen wird. Ich habe Interviews gegeben, meine Arbeiten erklärt, aber diese Leute schauen nicht hin und hören nicht zu. Es ist so absurd, dass man lachen will, aber im nächsten Moment hat man vielleicht eine Kugel im Kopf. (GQ empfiehlt: Banksy: Seine Kunst wird auf Briefmarke in der Ukraine verewigt – und verhöhnt Putin)
Zwischen Schmerz und Hoffnung
Interessiert es Sie, „Balkan Baroque“ mit einer aktuellen Arbeit fortzusetzen? Auf welche Schmerzpunkte würden Sie sich konzentrieren, wenn Sie sich die Konflikte in der Ukraine, in Gaza und Israel anschauen?
„Balkan Baroque“ handelte nicht nur vom Krieg, der die Menschen aus meinem Land, Jugoslawien, zerstört hat. Dieses Trauma ist universell und wiederholt sich an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit und in einem anderen Konflikt. Wir Menschen hören nie wirklich auf zu töten. Die Muster unseres Verhaltens werden klarer, wenn man herauszoomt und vom All aus auf die Erde schaut. „Balkan Baroque“ braucht kein Update. Krieg verursacht immer Trauer, Verlust, Knochen und Blut. In der Royal Academy spüren Sie die starke Reaktion von Ukrainern, Palästinensern, Israelis und den vielen anderen Flüchtlingen, die in London leben. Wenn sie die Installation sehen, projizieren sie ihre eigene Situation darauf. Es ist bemerkenswert, dass wir trotz aller Religionen und Spiritualität immer noch nicht gelernt haben zu vergeben. All diese Gewalt und die nicht verziehenen Verletzungen werden mehr Schmerz erzeugen.
Die Familie Sackler verdiente Milliarden mit dem Schmerzmittel OxyContin, das über eine Million Menschen das Leben kostete. Ein großer Teil von Sacklers Einnahmen kam Kunstinstitutionen zugute. Wie bewerten Sie diesen Transfer?
Das Problem fragwürdiger Kunstmäzene reicht bis zu den Medici zurück, die Geschichte ist voller grausamer Beispiele. Die Sacklers sind hochproblematisch. Eine große, zerstrittene Familie, in der über Jahrzehnte nicht jeder gleich beteiligt ist. Einige sind als Monster bekannt; manche versuchen, unerkannt zu profitieren; andere haben ihren Anteil verkauft, bevor alles begann. Es ist kompliziert, da nicht jeder, der den Namen trägt, gleichermaßen schuldig ist. Das für mich Interessanteste an dem Fall ist, dass dieses Mal nicht die Mächtigen gewonnen haben. Die Künstlerin Nan Goldin, einst OxyContin-abhängig, zwang Institutionen, die in den letzten Jahren direkt von den Opiat-Einnahmen profitiert hatten, den Namen Sackler zu entfernen. In ihrem Dokumentarfilm zeigt Goldin, wie sie eine Bewegung schuf, eindrucksvolle Demonstrationen inszenierte, um die Buchstaben von den Gebäuden zu holen. Eine Frau hat es geschafft, ein durch Geld und Einfluss geschütztes System ins Wanken zu bringen. Das war unvorstellbar und gibt Hoffnung! (Passend dazu: Zum Kinostart von “All the Beauty and the Bloodshed”: Nan Goldin im Interview über ihren Kampf und ihre Kunst)
Marina Abramović über Feminismus
Sie haben schon immer die Errungenschaften von Frauen gefördert, sich aber nicht als Feministin gesehen. Warum?
Ich wollte nie Teil einer Gruppe sein und Regeln folgen. Außerdem habe ich mich als Frau immer ausgesprochen stark wahrgenommen und nicht unterlegen gefühlt. Vielleicht lag es auch daran, dass ich als Kind keine Zuwendung bekam; meine Erziehung war hart, lieblos und kontrollierend. Von meiner Mutter gab es statt Umarmungen Schläge. Noch heute schlafe ich bewegungslos, da ich mitten in der Nacht geweckt wurde, wenn meine Decke beim Schlafen unordentlich verrutscht war. Und mein Vater brachte mir Schwimmen bei, indem er mich aus dem Boot warf und ohne zurückzuschauen davonruderte. Es war traumatisch, hat mir aber einen kämpferischen Geist verliehen. Ich mag Amazonen, mutige und starke Frauen. Zerbrechlichkeit und Schwäche als verführerisches Element, um Männern zu gefallen, widerstreben mir. Wussten Sie, dass Forschungen darauf hinweisen, dass die meisten antiken Höhlenmalereien von Frauen stammen? Frauen brachten nicht nur neues Leben, sondern auch die Kunst in die Welt. Ein Modemagazin hat mich zur Frau des Jahres gewählt, und Sie kürten mich zum Mann des Jahres, scheinbar kann ich beides sein!
Das Verhältnis zwischen Performerin und Publikum
Könnten Sie sich eine Zukunft vorstellen, in der das Marina Abramović Institute einmal von einer neuen Generation geleitet wird, ähnlich wie Kreativdirektoren im Bereich Architektur und Design die visionären Vermächtnisses von Zaha Hadid oder Balenciaga weitertragen?
Wie interessant, dass Sie diese beiden Namen erwähnen; ich respektiere beide enorm: Was Zaha entwickelte, war brillant und oft zu radikal, um umgesetzt zu werden, wie zum Beispiel einen Hangtunnel durch die Schweiz zu bohren, sodass man Ski fahren kann, ohne jemals Berge oder Landschaften zu sehen. Genau wie Demnas deutlich osteuropäisch geprägte Interpretation von Balenciaga. Ich glaube, ich verstehe diese Art von Arbeit sehr gut. Nun zu Ihrer Frage: Nach „The Artist Is Present“ wollte ich mich mehr mit meinem Vermächtnis beschäftigen. Da ich keine Gemälde hinterlasse, habe ich MAI auch als Plattform für Long-Duration-Performance gegründet. Es geht nicht nur darum, diese Art von intensiver, transformativer Performance zu lehren, sondern auch darum, die nächste Generation von Publikum an langes Zuschauen heranzuführen. (Spannend: Studio Sub im Interview: Visions of Space – ihre Raumwelten für Balenciaga)
Das Verhältnis zwischen dem Performer und “dem Publikum” ist ein häufig wiederkehrendes Thema in Ihren Gesprächen und ein wichtiger Aspekt Ihrer Arbeit.
Das Publikum und ich, wir sind eins. Bei „The Artist Is Present“ war das offensichtlich. Viele Künstler bleiben lieber in ihrer eigenen Welt; ich nicht. Selbst bei Vorträgen achte ich darauf, ob ich die Anwesenden fesseln kann oder ob jemand gelangweilt aufsteht und geht. Die Choreografin Martha Graham sagte: „Wo immer ein Tänzer steht, ist heiliger Boden“, und meine Auffassung ist, wo immer das Publikum steht, ist für mich heiliger Boden. Kürzlich hatten wir eine Veranstaltung für 16- bis 25-Jährige mit Musik und Workshops, die 2.000 Jugendliche anzog. Bei einer anderen Ausstellung ließ ich einen Zwölfjährigen einen geräuschunterdrückenden Kopfhörer aufsetzen. Seine Begeisterung war so groß, dass am nächsten Tag die ganze Klasse kam, um Stille zu hören.
Sehen Sie ein wachsendes Interesse bei den Zuschauern, an Workshops teilzunehmen, die eigentlich für Künstler gedacht sind?
In Griechenland bieten wir Kurse für jeden an, der Interesse an dieser Art von Auseinandersetzung hat. Für fünf Tage verzichten Teilnehmer auf Nahrung, Reden, Technologie und Uhren; körperlich und geistig werden sie stark gefordert. Auch wenn es schwerfällt, sich darauf einzulassen, kommen viele wieder. Wenn sie sich ihren Ängsten stellen, statt sie zu verdrängen, spüren sie Selbstvertrauen und Stärke. Ohne Ablenkungen erkennen sie, wer sie sind und was ihnen wichtig ist. Das schafft Klarheit.
Der Unterschied zwischen Performance-Kunst und Content-Creators
Sie lehren auch an deutschen Hochschulen. Was charakterisiert Performance-Kunst und wie unterscheidet sie sich von der Arbeit eines Content-Creators?
Performance-Kunst erfordert einen realen Raum und Publikum. In meinem Labor für Folkwang-Studenten in Essen arbeiteten wir intensiv mit Künstlern verschiedener Disziplinen. Auch hier konzentrieren wir uns auf Long-Duration-Performance und darauf, wie man seine eigenen Grenzen überwindet. Eine Tänzerin, deren Albtraum es war, nackt als Huhn auftreten zu müssen, tat genau dies neun Tage lang. Sie war das brillanteste Huhn, das mir je begegnet ist! Jeder präsentierte seine Kunst vor Publikum. Eine deutsche Zeitung schrieb, ich ermutige Künstler, ihre eigene Stimme zu finden, statt „kleine Abramovićs“ zu formen. Das hat mir gefallen.
In einem anderen Kurs ließen Sie Studenten monatelang Ideen entwickeln und diejenigen verwerfen, die sie für minderwertig hielten. Am Ende suchten Sie nur im Müll nach guten Ideen. Wie vermeiden Sie die Selbstzensur der besten Einfälle?
Die Erwartungen anderer sollten keine Rolle spielen und auch nicht Angst vor Kritik. „Bad Reviews“ ist eine großartige Sammlung von 150 Kunst-Verrissen, ich habe auch eine negative Kritik beigesteuert. Wäre ich den Kritikern in den 1970ern gefolgt, hätte ich den Revolver an meiner Schläfe selbst abgedrückt. Bedenken Sie: Es gab Bestrebungen, den Eiffelturm nach seinem Bau abzureißen, da viele fanden, er ruiniere das Stadtbild von Paris! Ich suche stets nach Ideen, die mich herausfordern oder unbehaglich machen. Ein starkes Konzept ist oft simpel und riskant. Als ich jung war, brauchte ich mindestens 20 Dinge, um einen Punkt zu machen, schließlich zehn, und mit der Zeit lernte ich, mich auf das Wesentliche zu reduzieren. Im MoMA reichten mir zwei Stühle und ein Tisch, bis ich erkannte, dass selbst diese verzichtbar waren. Je klarer das Konzept, desto weniger braucht man, um es zu formulieren. (Auch interessant: Mit Kritik umgehen wie Jeff Bezos: So bleibt er auch bei Hatern gelassen)
Marina Abramović reist an entlegene Orte, um Inspiration für ihre Arbeiten zu sammeln
Wie beginnen Sie mit einer neuen Arbeit, liegt ein weißes Blatt auf dem Schreibtisch?
Auf keinen Fall! Ich meide das Studio. Ich denke auch nicht darüber nach, welche Themen oder Personen ich einbeziehen sollte, um in einen aktuellen Dialog einzutreten oder Diversität zu priorisieren. Kunst ist nicht demokratisch. Mich stimulieren Erlebnisse, dann erscheint eines Tages überraschend eine Idee in 3D vor mir. Meine Urlaube sind Forschungsreisen, idealerweise an entlegene Orte, ohne Elektrizität, wie Wüste oder Dschungel, um eine völlig andere Perspektive zu gewinnen.
In Ihrem Film „The Space In Between“ reisten Sie nach Brasilien, um indigene Gemeinschaften und deren spirituelle Rituale kennenzulernen. Ihre Ayahuasca-Zeremonie wirkte allerdings wie ein Horrortrip.
Das war es auch, die Hölle. Da ich weder Alkohol noch Drogen konsumiere, bin ich nicht an bewusstseinsverändernde Substanzen gewöhnt. Vielleicht war der Pflanzentrunk falsch dosiert, jedenfalls habe ich mich 17 Stunden lang übergeben, geweint und schreckliche Visionen gehabt. Mein Gehirn war wie ein Spiegel in Hunderte kleine Stücke zerbrochen, und ich konnte meine Gedanken nicht wieder zusammensetzen. Ich hatte Angst, aus diesem Zustand nicht mehr herauszukommen. Viele Menschen machen gute Erfahrungen, finden Offenbarungen für ihre Performance oder heilen ihre Depression. Aber diese Methode ist nichts für mich.
Will man die Kamera nicht ausschalten oder zumindest das Schlimmste herausschneiden?
Ich habe keine Geheimnisse und gebe bewusst die Kontrolle aus der Hand. Für mein neues Buch “Visual Biography” habe ich mit einer Autorin aus L. A. zusammengearbeitet, die Zugang zu 25.000 Bildern aus meinem Archiv hatte. Viele kannte ich selbst nicht, aber ich habe ihr freie Hand beim Auswählen und Gestalten gelassen, ähnlich wie meine Psychoanalytikerin unsere Therapiegespräche interpretierte. Es war spannend, nicht selbst automatisch zusammenzustellen, was vertraut aussieht. Die Vision eines anderen kann Neues offenbaren. Manchmal habe ich gefragt: “Why do you always choose the most fucked up images?” Sie antwortete: “Weil ich sie mag.” (Passend zur neuen GQ: Das Tom Ford Exit-Interview – Ein Gespräch über Tod, Sex und Geld)
PRODUKTION
Fotos: Pierre-Ange Carlotti von Phenomena
Licht: Aline Blocman
Foto-Assistenz: Stephen Smith
Styling: Tobias Frericks
Styling-Assistenz: Sandra Bell
Produktion: Noot Coates von Town Productions
Produktions-Assistenz: Vanessa Grasse, Danton Appleton-Smith
Make-up: Anne-Sophie Costa von Streeters
Make-up-Assistenz: Rina Inata
Haare: Tomi Roppongi von Julian Watson
Maniküre: Ami Streets