Saint Laurent widmet sich in dieser Saison dem klassischen Anzug – und denkt ihn neu.
In den vergangenen zwei Monaten haben die führenden Designer der Herrenmode den Anzug unzählige Male neu interpretiert. Pharrell Williams inszenierte den Dandy des Wilden Westen für Louis Vuitton und Prada tat es im Rahmen von Corporate Core, Business-Kleidung also, mit Elementen aus den frühen Nullerjahren, die sich selbst parodiert.
Somit kannte der Anzug in dieser Saison keine Grenzen – weder ihre Form, noch die Größe. In diesem Winter werden Anzüge an den Kleiderstangen der Boutiquen hängen, die von den 1920er- (Ferragamo), den 1990er-Jahren (Gucci) und der Zukunft (Rick Owens) inspiriert sind – und sich doch in der Gegenwart perfekt tragen lassen. Nach einem Jahrzehnt, in dem die kommerzielle sichere Variante des Anzugs den Laufsteg dominierte, widmen sich die Modemachenden dem Klassiker nun mit einer gewissen Radikalität. (Auch interessant: Balenciaga präsentiert eine Show, die unsere Definition von Luxus in Frage stellt)
Saint Laurent schließt die Paris Fashion Week 2024 mit einem Spektakel der Schneiderkunst
Letztlich war es jedoch Anthony Vaccarello, der das entscheidende Statement für diesen Moment in der Menswear präsentierte. Der Designer von Saint Laurent ist für zahlreiche Highlights in der Herrenmode der letzten Jahre verantwortlich. Und in der vergangenen Woche schraubte er die Ansprüche an sein Werk noch einmal höher, indem er die Pariser Fashion Week mit einer erhabenen Parade herausragender Schneiderkunst schloss. Diese fand im Kunstmuseum Pinault Collection unter der hoch aufragenden Kuppel der ehemaligen Bourse de Commerce statt und war, passenderweise, die letzte große Show dieser Herbst/Winter-Saison 2024.
Hinter der Bühne erklärte Vaccarello, der Zeitpunkt sei zufällig gewählt worden. Der Chef der Kering Group, François-Henri Pinault, hatte ihm die Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt. Und es sei nur an diesem Datum gegangen, wo der Raum zwischen zwei Ausstellungen frei war. Die Präsentation begann mit einer klaren Hommage an den Stil von Yves Saint Laurent selbst. In einem langen grauen Flanell-Zweireiher mit gestärktem weißem Hemd, dunkler Krawatte und Brille wirkte das Model wie ein Abbild des jungen Genies der französischen Mode, wie er in den 1970er Jahren aussah. Durch die Rotunde schlendernd, folgten ihm die Blicke der etwa 100 anwesenden Gäste. (Lesen Sie auch: Alexander McQueen: 9 Dinge, die Sie über Seán McGirrs Debüt wissen müssen)
Anthony Vaccarello ließ sich von dem Archiv des Yves Saint Laurent inspirieren
Die Anzüge, aus schwerem Flanell gefertigt und mit einem taillierten Schnitt versehen, wirkten als würden sie aus dem Archiv des französischen Modehauses stammen. Dabei schaffte es der Designer, diese dabei nicht veraltet wirken zu lassen. Denn der persönliche Stil Saint Laurents, der den doppelreihigen Blazer und das hochgeschlossene Hemd zum Emblem des kreativen Genies machte, war und ist zeitlos. Heute fühlen sich die weiten, Bundfaltenhosen mit schmalem Bund, die er damals zu seiner Uniform erkor, frisch an. Sie jetzt auf dem Laufsteg des von hautengen Schnitten dominierten Hauses zusehen, hat eine besondere Wirkung. Hinter der Bühne beschrieb Vaccarello die Absicht, dieser Saison einen Ausdruck von “maximalen Klassizismus” zu verleihen.
Doch die Wendung kündigte sich in der zweiten Hälfte der Show an, als Vaccarellos Hommage an Herrn Saint Laurent zu einem Tribut an dessen Design-Erbe wurde. Die Anzüge, die schließlich über den Laufsteg getragen wurden, wurden nicht nur traditionell geschneidert, sondern mithilfe der Flou-Techniken kreiert. Bei der traditionellen Schneiderkunst geht es um die Struktur – bei Flou darum, etwas Fließendes, Drapiertes zu kreieren.
Saint Laurent ist für beides berühmt – Vacarrellos Idee war es, diese Disziplinen in einem Kleidungsstück zu vereinen. So verwendete er fließenden Seiden-Crêpe-Stoff und entfernte alle Elemente, die dem gängigen Anzug Struktur verleihen, ließ nur die gepolsterten Schultern an richtiger Stelle. “Bei Saint Laurent sagen wir immer, dass die Silhouetten mit der Schulter beginnen, also habe ich damit angefangen” sagte der Designer.
Bei den Sakkos fiel die Seide wie ein schimmernder Wasserfall von den Schultern, die sich an die Bewegungen der Models anpasste. Die passenden Hosen, in Zimt-, Rosé-, Schokoladen-, Orchideen- und Pfirsichtönen flossen dahin. Das war der Anzug, reduziert auf seine Essenz, eine schöne und neuartige Idee innerhalb der traditionellsten Formen der Herrenmode. (Weiterlesen: Anzugtrends 2024: So tragen Sie Tailoring in diesem Jahr mit Stil)
Fließende Stoffe und eine neue Silhouette
“Ich wollte keine Tricks in dieser Kollektion”, wie Vaccarello die strenge Klarheit der rund 30 Anzüge auf dem Laufsteg erklärte. Es wurden nicht einmal Strickwaren, Accessoires oder Taschen gezeigt. Das ist Vaccarellos Art, etwas Neues, Großes zu wagen; er bietet eine stark bearbeitete Idee an und wiederholt sie immer wieder, bis man mit einer klaren Form im Kopf nach Hause geht.
So waren alle Augen waren auf die Silhouette gerichtet, die Vaccarello mit (erstmals) klobigen Derbys mit quadratischen Zehen und mehreren Caban-Mänteln im Stil von Patrick Bateman kühn betonte. Er sagte, er habe bei der Zusammenstellung der Show Parallelen zu American Psycho bemerkt: “Das liebe ich” sagte er, “es sieht normal aus, aber mit einem gewissen Twist”.
Vaccarello bezeichnete sie als seine tragbarste Kollektion der letzten Jahre. Trotzdem sprechen die poetischen Flou-Anzüge eine ganz bestimmte Fantasie an, die bei Männern gerade jetzt mitschwingt. Die Vorstellung, dass ihr Outfit mehr über sie verraten kann, als es verbirgt. Dass man sich an die maskulinen Regeln der klassischen Herrenmode halten und gleichzeitig einen Sinn für Kreativität verkörpern kann, wie es Herr Saint Laurent tat.
Vaccarello sagte mir, dass seine Kundschaft genau das wolle. “Wenn wir uns unterhalten und etwas Besonderes machen, wollen sie nicht dem Klischee von Männlichkeit entsprechen –, auch wenn sie sehr maskulin sind. Genau darum geht es in dieser Kollektion.”
Dieser Artikel erschien im Original bei GQ US